Man tut gut, gewisse Dinge, die sich nicht mehr ändern werden,
einfach festzustellen, ohne die Tatsachen zu bedauern oder auch nur zu
beurteilen. So ist mir klar geworden, daß ich nie ein richtiger
Leser war. In der Kindheit kam mir das Lesen vor wie ein Beruf, den
man auf sich nehmen würde, später einmal, wenn alle die
Berufe kamen, einer nach dem andern. Ich hatte, aufrichtig gesagt,
keine bestimmte Vorstellung, wann das sein könnte. Ich
verließ mich darauf, daß man es merken würde, wenn
das
Leben gewissermaßen umschlug und nur noch von außen kam,
so wie früher von innen. Ich bildete mir ein, es würde dann
deutlich und eindeutig sein und gar nicht
mißzuverstehn. Durchaus nicht einfach, im Gegenteil recht
anspruchsvoll,
verwickelt und schwer meinetwegen, aber immerhin sichtbar. Das
eigentümlich Unbegrenzte der Kindheit, das
Unverhältnismäßige, das Nie-recht-Absehbare, das
würde dann überstanden sein. Es war freilich nicht
einzusehen, wieso. Im Grunde nahm es immer noch zu und schloß
sich auf allen Seiten, und je mehr man hinaussah, desto mehr Inneres
rührte man in sich auf: Gott weiß, wo es herkam. Aber
wahrscheinlich wuchs es zu einem Äußersten an und brach
dann mit einem Schlage ab. Es war leicht zu beobachten, daß die
Erwachsenen sehr wenig davon beunruhigt wurden; sie gingen herum und
urteilten und handelten, und wenn sie je in Schwierigkeiten waren, so
lag das an äußeren Verhältnissen.
An den Anfang solcher Veränderungen verlegte ich auch das
Lesen. Dann würde man mit Büchern umgehen wie mit Bekannten,
es würde Zeit dafür da sein, eine bestimmte,
gleichmäßig und gefällig vergehende Zeit, gerade so
viel, als einem eben paßte. Natürlich würden einzelne
einem näher stehen, und es ist nicht gesagt, daß man davor
sicher sein würde, ab und zu eine halbe Stunde über ihnen zu
versäumen: einen Spaziergang, eine Verabredung, den Anfang im
Theater oder einen dringenden Brief. Daß sich einem aber das
Haar verbog und verwirrte, als ob man darauf gelegen hätte,
daß man glühende Ohren bekam und Hände kalt wie
Metall, daß eine lange Kerze neben einem herunterbrannte und in
den Leuchter hinein, das würde dann, Gott sei Dank, völlig
ausgeschlossen sein.
Ich führe diese Erscheinungen an, weil ich sie ziemlich
auffällig an mir erfuhr, damals in jenen Ferien auf Ulsgaard, als
ich so plötzlich ins Lesen geriet. Da zeigte es sich gleich,
daß ich es nicht konnte. Ich hatte es freilich vor der Zeit
begonnen, die ich mir dafür in Aussicht gestellt hatte. Aber
dieses Jahr in Sorö unter lauter andern ungefähr
Altersgleichen hatte mich mißtrauisch gemacht gegen solche
Berechnungen. Dort waren rasche, unerwartete Erfahrungen an mich
herangekommen, und es war deutlich zu sehen, daß sie mich wie
einen Erwachsenen behandelten. Es waren lebensgroße Erfahrungen,
die sich so schwer machten, wie sie waren. In demselben Maße
aber, als ich ihre Wirklichkeit begriff, gingen mir auch für die
unendliche Realität meines Kindseins die Augen auf. Ich
wußte, daß es nicht aufhören würde, so wenig wie
das andere erst begann. Ich sagte mir, daß es natürlich
jedem freistand, Abschnitte zu machen, aber sie waren erfunden. Und es
erwies sich, daß ich zu ungeschickt war, mir welche
auszudenken. Sooft ich es versuchte, gab mir das Leben zu verstehen,
daß es nichts von ihnen wußte. Bestand ich aber darauf,
daß meine Kindheit vorüber sei, so war in demselben
Augenblick auch alles Kommende fort, und mir blieb nur genau so viel,
wie ein Bleisoldat unter sich hat, um stehen zu können.
Diese Entdeckung sonderte mich begreiflicherweise noch mehr ab. Sie
beschäftigte mich in mir und erfüllte mich mit einer Art
endgültiger Frohheit, die ich für Kümmernis nahm, weil
sie weit über mein Alter hinausging. Es beunruhigte mich auch,
wie ich mich entsinne, daß man nun, da nichts für eine
bestimmte Frist vorgesehen war, manches überhaupt versäumen
könne. Und als ich so nach Ulsgaard zurückkehrte und alle
die Bücher sah, machte ich mich darüber her; recht in Eile,
mit fast schlechtem Gewissen. Was ich später so oft empfunden
habe, das ahnte ich damals irgendwie voraus: daß man nicht das
Recht hatte, ein Buch aufzuschlagen, wenn man sich nicht
verpflichtete, alle zu lesen. Mit jeder Zeile brach man die Welt
an. Von den Büchern war sie heil und vielleicht wieder ganz
dahinter. Wie aber sollte ich, der nicht lesen konnte, es mit allen
aufnehmen? Da standen sie, selbst in diesem bescheidenen
Bücherzimmer, in so aussichtsloser Überzahl und hielten
zusammen. Ich stürzte mich trotzig und verzweifelt von Buch zu
Buch und schlug mich durch die Seiten durch wie einer, der etwas
Unverhältnismäßiges zu leisten hat. Damals las ich
Schiller und Baggesen, Öhlenschläger und Schack-Staffeldt,
was von Walter Scott da war und Calderon. Manches kam mir in die
Hände, was gleichsam schon hätte gelesen sein müssen,
für anderes war es viel zu früh; fällig war fast nichts
für meine damalige Gegenwart. Und trotzdem las ich.
In späteren Jahren geschah es mir zuweilen nachts, daß ich
aufwachte, und die Sterne standen so wirklich da und gingen so
bedeutend vor, und ich konnte nicht begreifen, wie man es über
sich brachte, so viel Welt zu versäumen. So ähnlich war mir,
glaub ich, zumut, sooft ich von den Büchern aufsah und hinaus,
wo der Sommer war, wo Abelone rief. Es kam uns sehr unerwartet,
daß sie rufen mußte und daß ich nicht einmal
antwortete. Es fiel mitten in unsere seligste Zeit. Aber da es mich
nun einmal erfaßt hatte, hielt ich mich krampfhaft ans Lesen und
verbarg mich, wichtig und eigensinnig, vor unseren täglichen
Feiertagen. Ungeschickt wie ich war, die vielen, oft unscheinbaren
Gelegenheiten eines natürlichen Glücks auszunutzen,
ließ ich mir nicht ungern von dem anwachsenden Zerwürfnis
künftige Versöhnungen versprechen, die desto reizender
wurden, je weiter man sie hinausschob.
Übrigens war mein Leseschlaf eines Tages so plötzlich zu
Ende, wie er begonnen hatte; und da erzürnten wir einander
gründlich. Denn Abelone ersparte mir nun keinerlei Spott und
Überlegenheit, und wenn ich sie in der Laube traf, behauptete sie
zu lesen. An dem einen Sonntagmorgen lag das Buch zwar geschlossen
neben ihr, aber sie schien mehr als genug mit den Johannisbeeren
beschäftigt, die sie vorsichtig mittels einer Gabel aus ihren
kleinen Trauben streifte.
Es muß dies eine von jenen Tagesfrühen gewesen sein, wie es
solche im Juli giebt, neue, ausgeruhte Stunden, in denen überall
etwas frohes Unüberlegtes geschieht. Aus Millionen kleinen
ununterdrückbaren Bewegungen setzt sich ein Mosaik
überzeugtesten Daseins zusammen; die Dinge schwingen ineinander
hinüber und hinaus in die Luft, und ihre Kühle macht den
Schatten klar und die Sonne zu einem leichten, geistigen Schein. Da
giebt es im Garten keine Hauptsache; alles ist überall, und man
müßte in allem sein, um nichts zu versäumen.
In Abelonens kleiner Handlung aber war das Ganze nochmal. Es war so
glücklich erfunden, gerade dies zu tun und genau so, wie sie es
tat. Ihre im Schattigen hellen Hände arbeiteten einander so
leicht und einig zu, und vor der Gabel sprangen mutwillig die runden
Beeren her, in die mit tauduffem Weinblatt ausgelegte Schale hinein,
wo schon andere sich häuften, rote und blonde, glanzlichternd,
mit gesunden Kernen im herben Innern. Ich wünschte unter diesen
Umständen nichts als zuzusehen, aber, da es wahrscheinlich war,
daß man mirs verwies, ergriff ich, auch um mich unbefangen zu
geben, das Buch, setzte mich an die andere Seite des Tisches und
ließ mich, ohne lange zu blättern, irgendwo damit ein.
»Wenn du doch wenigstens laut läsest, Leserich«,
sagte Abelone nach einer Weile. Das klang lange nicht mehr so
streitsüchtig, und da es, meiner Meinung nach, ernstlich Zeit
war, sich auszugleichen, las ich sofort laut, immerzu bis zu einem
Abschnitt und weiter, die nächste Überschrift: An
Bettine.
»Nein, nicht die Antworten«, unterbrach mich Abelone und
legte auf einmal wie erschöpft die kleine Gabel nieder. Gleich
darauf lachte sie über das Gesicht, mit dem ich sie ansah.
»Mein Gott, was hast du schlecht gelesen, Malte.«
Da mußte ich nun zugeben, daß ich keinen Augenblick
bei der Sache gewesen sei. »Ich las nur, damit du mich
unterbrichst«, gestand ich und wurde heiß und
blätterte zurück nach dem Titel des Buches. Nun wußte
ich erst, was es war. »Warum denn nicht die Antworten?«
fragte ich neugierig.
Es war, als hätte Abelone mich nicht gehört. Sie saß
da in ihrem lichten Kleid, als ob sie überall innen ganz dunkel
würde, wie ihre Augen wurden.
»Gieb her«, sagte sie plötzlich wie im Zorn und nahm
mir das Buch aus der Hand und schlug es richtig dort auf, wo sie es
wollte. Und dann las sie einen von Bettinens Briefen.
Ich weiß nicht, was ich davon verstand, aber es war, als
würde mir feierlich versprochen, dieses alles einmal
einzusehen. Und während ihre Stimme zunahm und endlich fast jener
glich, die ich vom Gesang her kannte, schämte ich mich, daß
ich mir unsere Versöhnung so gering vorgestellt hatte. Denn ich
begriff wohl, daß sie das war. Aber nun geschah sie irgendwo
ganz im Großen, weit über mir, wo ich nicht hinreichte.
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