Diese Nacht ist mir das kleine grüne Buch wieder eingefallen, das
ich als Knabe einmal besessen haben muß; und ich weiß
nicht, warum ich mir einbilde, daß es von Mathilde Brahe
stammte. Es interessierte mich nicht, da ich es bekam, und ich las es
erst mehrere Jahre später, ich glaube in der Ferienzeit auf
Ulsgaard. Aber wichtig war es mir vom ersten Augenblick an. Es war
durch und durch voller Bezug, auch äußerlich
betrachtet. Das Grün des Einbandes bedeutete etwas, und man sah
sofort ein, daß es innen so sein mußte, wie es war. Als ob
das verabredet worden wäre, kam zuerst dieses glatte, weiß
in weiß gewässerte Vorsatzblatt und dann die Titelseite,
die man für geheimnisvoll hielt. Es hätten wohl Bilder drin
sein können, so sah es aus; aber es waren keine, und man
mußte, fast wider Willen, zugeben, daß auch das in der
Ordnung sei. Es entschädigte einen irgendwie, an einer bestimmten
Stelle das schmale Leseband zu finden, das, mürbe und ein wenig
schräg, rührend in seinem Vertrauen, noch rosa zu sein, seit
Gott weiß wann immer zwischen den gleichen Seiten lag.
Vielleicht war es nie benutzt worden, und der Buchbinder hatte es
rasch und fleißig da hineingebogen, ohne recht
hinzusehen. Möglicherweise aber war es kein Zufall. Es konnte
sein, daß jemand dort zu lesen aufgehört hatte, der nie
wieder las; daß das Schicksal in diesem Moment an seiner
Türe klopfte, um ihn zu beschäftigen, daß er weit von
allen Büchern weggeriet, die doch schließlich nicht das
Leben sind. Das war nicht zu erkennen, ob das Buch weitergelesen
worden war. Man konnte sich auch denken, daß es sich einfach
darum handelte, diese Stelle aufzuschlagen wieder und wieder, und
daß es dazu gekommen war, wenn auch manchmal erst spät in
der Nacht. Jedenfalls hatte ich eine Scheu vor den beiden Seiten, wie
vor einem Spiegel, vor dem jemand steht. Ich habe sie nie gelesen. Ich
weiß überhaupt nicht, ob ich das ganze Buch gelesen
habe. Es war nicht sehr stark, aber es standen eine Menge Geschichten
drin, besonders am Nachmittag; dann war immer eine da, die man noch
nicht kannte.
Ich erinnere nur noch zwei. Ich will sagen, welche: Das Ende des
Grischa Otrepjow und Karls des Kühnen Untergang.
Gott weiß, ob es mir damals Eindruck machte. Aber jetzt, nach so
viel Jahren, entsinne ich mich der Beschreibung, wie der Leichnam des
falschen Zaren unter die Menge geworfen worden war und dalag drei
Tage, zerfetzt und zerstochen und eine Maske vor dem Gesicht. Es ist
natürlich gar keine Aussicht, daß mir das kleine Buch je
wieder in die Hände kommt. Aber diese Stelle muß
merkwürdig gewesen sein. Ich hätte auch Lust, nachzulesen,
wie
die Begegnung mit der Mutter verlief. Er mag sich sehr sicher
gefühlt haben, da er sie nach Moskau kommen ließ; ich bin
sogar überzeugt, daß er zu jener Zeit so stark an sich
glaubte, daß er in der Tat seine Mutter zu berufen meinte. Und
diese Marie Nagoi, die in schnellen Tagreisen aus ihrem dürftigen
Kloster kam, gewann ja auch alles, wenn
sie zustimmte. Ob aber seine Unsicherheit nicht gerade damit begann,
daß sie ihn anerkannte? Ich bin nicht abgeneigt zu glauben, die
Kraft seiner Verwandlung hätte darin beruht, niemandes Sohn mehr
zu sein.
(Das ist schließlich die Kraft aller jungen Leute, die
fortgegangen sind.)
Das Volk, das sich ihn erwünschte, ohne sich einen vorzustellen,
machte ihn nur noch freier und unbegrenzter in seinen
Möglichkeiten. Aber die Erklärung der Mutter hatte, selbst
als bewußter Betrug, noch die Macht, ihn zu verringern; sie hob
ihn aus der Fülle seiner Erfindung; sie beschränkte ihn auf
ein müdes Nachahmen; sie setzte ihn auf den Einzelnen herab, der
er nicht war: sie machte ihn zum Betrüger. Und nun kam, leiser
auflösend, diese Marina Mniczek hinzu, die ihn auf ihre Art
leugnete, indem sie, wie sich später erwies, nicht an ihn
glaubte, sondern an jeden. Ich kann natürlich nicht dafür
einstehen, wie weit das alles in jener Geschichte berücksichtigt
war. Dies, scheint mir, wäre zu erzählen gewesen.
Aber auch abgesehen davon, ist diese Begebenheit durchaus nicht
veraltet. Es wäre jetzt ein Erzähler denkbar, der viel
Sorgfalt an die letzten Augenblicke wendete; er hätte nicht
unrecht. Es geht eine Menge in ihnen vor: Wie er aus dem innersten
Schlaf ans Fenster springt und über das Fenster hinaus in den Hof
zwischen die Wachen. Er kann allein nicht auf; sie müssen ihm
helfen. Wahrscheinlich ist der Fuß gebrochen. An zwei von den
Männern gelehnt, fühlt er, daß sie an ihn glauben. Er
sieht sich um:
auch die andern glauben an ihn. Sie dauern ihn fast, diese riesigen
Strelitzen, es muß weit gekommen sein: sie haben Iwan Grosnij
gekannt in all seiner Wirklichkeit, und glauben an ihn. Er
hätte Lust, sie aufzuklären, aber den Mund öffnen,
hieße einfach schreien. Der Schmerz im Fuß ist rasend, und
er hält so wenig von sich in diesem Moment,
daß er nichts weiß als den Schmerz. Und dann ist keine
Zeit. Sie drängen heran, er sieht den Schuiskij und hinter ihm
alle. Gleich wird es vorüber sein. Aber da schließen sich
seine Wachen. Sie geben ihn nicht auf. Und ein Wunder geschieht. Der
Glauben dieser alten Männer pflanzt sich fort, auf einmal will
niemand mehr vor. Schuiskij, dicht vor ihm, ruft verzweifelt nach
einem Fenster hinauf. Er sieht sich nicht um. Er weiß, wer dort
steht; er begreift, daß es still wird, ganz ohne Übergang
still. Jetzt wird die Stimme kommen, die er von damals her kennt; die
hohe, falsche Stimme, die sich überanstrengt. Und da hört er
die Zarinmutter, die ihn verleugnet.
Bis hierher geht die Sache von selbst, aber nun, bitte, einen
Erzähler, einen Erzähler: denn von den paar Zeilen, die noch
bleiben, muß Gewalt ausgehen über jeden Widerspruch
hinaus. Ob es gesagt wird oder nicht, man muß darauf
schwören, daß zwischen Stimme und Pistolenschuß,
unendlich zusammengedrängt, noch einmal Wille und Macht in ihm
war, alles zu sein. Sonst versteht man nicht, wie glänzend
konsequent es ist, daß sie sein Nachtkleid durchbohrten und in
ihm herumstachen, ob sie auf das Harte einer Person stoßen
würden. Und daß er im Tode doch noch die Maske trug, drei
Tage lang, auf die er fast schon verzichtet hatte.
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