Ich nahm mir nach dieser Erfahrung vor, in ähnlichen Fällen
immer gleich auf die Tatsachen loszugehen. Ich merkte, wie einfach und
erleichternd sie waren, den Vermutungen gegenüber. Als ob ich
nicht gewußt hätte, daß alle unsere Einsichten
nachträglich sind, Abschlüsse, nichts weiter. Gleich
dahinter fängt eine neue Seite an mit etwas ganz anderem, ohne
Übertrag. Was halfen mir jetzt im gegenwärtigen Falle die
paar Tatsachen, die sich spielend feststellen ließen. Ich will
sie gleich aufzählen, wenn ich gesagt haben werde, was mich
augenblicklich beschäftigt:
daß sie eher dazu beigetragen haben, meine Lage, die (wie ich
jetzt eingestehe) recht schwierig war, noch lästiger zu
gestalten.
Es sei zu meiner Ehre gesagt, daß ich viel geschrieben habe in
diesen Tagen; ich habe krampfhaft geschrieben. Allerdings, wenn ich
ausgegangen war, so dachte ich nicht gerne an das Nachhausekommen. Ich
machte sogar kleine Umwege und verlor auf diese Art eine halbe Stunde,
während welcher ich hätte schreiben können. Ich gebe
zu, daß dies eine Schwäche war. War ich aber einmal in
meinem Zimmer, so hatte ich mir nichts vorzuwerfen. Ich schrieb, ich
hatte mein Leben, und das da nebenan war ein ganz anderes
Leben, mit dem ich nichts teilte: das Leben eines
Studenten der Medizin, der für sein Examen studierte. Ich hatte
nichts Ähnliches vor mir, schon das war ein entscheidender
Unterschied. Und auch sonst waren unsere Umstände so verschieden
wie möglich. Das alles leuchtete mir ein. Bis zu dem Moment, da
ich wußte, daß es kommen würde; da vergaß ich,
daß es zwischen uns keine Gemeinsamkeit gab. Ich horchte so,
daß mein Herz ganz laut wurde. Ich ließ alles und
horchte. Und dann kam es: ich habe mich nie geirrt.
Beinah jeder kennt den Lärm, den irgendein blechernes, rundes
Ding, nehmen wir an, der Deckel einer Blechbüchse, verursacht,
wenn er einem entglitten ist. Gewöhnlich kommt er gar nicht
einmal sehr laut unten an, er fällt kurz auf, rollt auf dem Rande
weiter und wird eigentlich erst unangenehm, wenn der Schwung zu Ende
geht und er nach allen Seiten taumelnd aufschlägt, eh er ins
Liegen kommt. Nun also: das ist das Ganze; so ein blecherner
Gegenstand fiel nebenan, rollte, blieb liegen, und dazwischen, in
gewissen Abständen, stampfte es. Wie alle Geräusche, die
sich wiederholt durchsetzen, hatte auch dieses sich innerlich
organisiert; es wandelte sich ab, es war niemals genau dasselbe. Aber
gerade das sprach für seine Gesetzmäßigkeit. Es
konnte heftig sein oder milde oder melancholisch; es konnte gleichsam
überstürzt vorübergehen oder unendlich lange
hingleiten, eh es zur Ruhe kam. Und das letzte Schwanken war immer
überraschend. Dagegen hatte das Aufstampfen, das hinzukam, etwas
fast Mechanisches. Aber es teilte den Lärm immer anders ab, das
schien seine Aufgabe zu sein. Ich kann diese Einzelheiten jetzt viel
besser übersehen; das Zimmer neben mir ist leer. Er ist nach
Hause gereist, in die Provinz. Er sollte sich erholen. Ich wohne im
obersten Stockwerk. Rechts ist ein anderes Haus, unter mir ist noch
niemand eingezogen: ich bin ohne Nachbar.
In dieser Verfassung wundert es mich beinah, daß ich die
Sache nicht leichter nahm. Obwohl ich doch jedesmal im voraus gewarnt
war durch mein Gefühl. Das wäre auszunutzen
gewesen. Erschrick nicht, hätte ich mir sagen müssen, jetzt
kommt es; ich wußte ja, daß ich mich niemals
täuschte. Aber das lag vielleicht gerade an den Tatsachen, die
ich mir hatte sagen lassen; seit ich sie wußte, war ich noch
schreckhafter geworden. Es berührte mich fast gespenstisch,
daß das, was diesen Lärm auslöste, jene kleine,
langsame, lautlose Bewegung war, mit der sein Augenlid sich
eigenmächtig über sein rechtes Auge senkte und schloß,
während er las. Dies war das Wesentliche an seiner Geschichte,
eine Kleinigkeit. Er hatte schon ein paar Mal die Examen vorbeigehen
lassen müssen, sein Ehrgeiz war empfindlich geworden, und die
Leute daheim drängten wahrscheinlich, sooft sie schrieben. Was
blieb also übrig, als sich zusammenzunehmen. Aber da hatte sich,
ein paar Monate vor der Entscheidung, diese Schwäche eingestellt;
diese kleine, unmögliche Ermüdung, die so lächerlich
war, wie wenn ein Fenstervorhang nicht oben bleiben will. Ich bin
sicher, daß er wochenlang der Meinung war, man müßte
das beherrschen können. Sonst wäre ich nicht auf die Idee
verfallen, ihm meinen Willen anzubieten. Eines Tages begriff ich
nämlich, daß der seine zu Ende sei. Und seither, wenn ich
es kommen fühlte, stand ich da auf meiner Seite der Wand und bat
ihn, sich zu bedienen. Und mit der Zeit wurde mir klar, daß er
darauf einging. Vielleicht hätte er das nicht tun dürfen,
besonders wenn man bedenkt, daß es eigentlich nichts
half. Angenommen sogar, daß wir die Sache ein wenig hinhielten,
so bleibt es doch fraglich, ob er wirklich imstande war, die
Augenblicke, die wir so gewannen, auszunutzen. Und was meine Ausgaben
betrifft, so begann ich sie zu fühlen. Ich weiß, ich fragte
mich, ob das so weitergehen dürfe, gerade an dem Nachmittag, als
jemand in unserer Etage ankam. Dies ergab bei dem engen Aufgang immer
viel Unruhe in dem kleinen Hotel. Eine
Weile später schien es mir, als trete man bei meinem Nachbar
ein. Unsere Türen waren die letzten im Gang, die seine quer und
dicht neben der meinen. Ich wußte indessen, daß er
zuweilen Freunde bei sich sah, und, wie gesagt, ich interessierte mich
durchaus nicht für seine Verhältnisse. Es ist möglich,
daß seine Tür noch mehrmals geöffnet wurde, daß
man draußen kam und ging. Dafür war ich wirklich nicht
verantwortlich.
Nun an diesem selben Abend war es ärger denn je. Es war noch
nicht sehr spät, aber ich war aus Müdigkeit schon zu Bett
gegangen; ich hielt es für wahrscheinlich, daß ich schlafen
würde. Da fuhr ich auf, als hätte man mich
berührt. Gleich darauf brach es los. Es sprang und rollte und
rannte irgendwo an und schwankte und klappte. Das Stampfen war
fürchterlich. Dazwischen klopfte man unten, einen Stock tiefer,
deutlich und böse gegen die Decke. Auch der neue Mieter war
natürlich gestört. Jetzt: das mußte seine Türe
sein. Ich war so wach, daß ich seine Türe zu hören
meinte, obwohl er erstaunlich vorsichtig damit umging. Es kam mir vor,
als nähere er sich. Sicher wollte er wissen, in welchem Zimmer es
sei. Was mich befremdete, war seine wirklich übertriebene
Rücksicht. Er hatte doch eben bemerken können, daß es
auf Ruhe nicht ankam in diesem Hause. Warum in aller Welt
unterdrückte er seinen Schritt? Eine Weile glaubte ich ihn an
meiner Tür; und dann vernahm ich, darüber war kein Zweifel,
daß er nebenan eintrat. Er trat ohne weiteres nebenan ein.
Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben?), nun wurde es
still. Still, wie wenn ein Schmerz aufhört. Eine
eigentümlich fühlbare, prickelnde Stille, als ob eine Wunde
heilte. Ich
hätte sofort schlafen können; ich hätte Atem holen
können und einschlafen. Nur mein Erstaunen hielt mich
wach. Jemand sprach nebenan, aber auch das gehörte mit in die
Stille. Das muß man erlebt haben, wie diese Stille war,
wiedergeben läßt es sich nicht. Auch draußen war
alles wie
ausgeglichen. Ich saß auf, ich horchte, es war wie auf dem
Lande. Lieber Gott, dachte ich, seine Mutter ist da. Sie saß
neben dem Licht, sie redete ihm zu, vielleicht hatte er den Kopf ein
wenig gegen ihre Schulter gelegt. Gleich würde sie ihn zu Bett
bringen. Nun begriff ich das leise Gehen draußen auf dem
Gang. Ach, daß es das gab. So ein Wesen, vor dem die Türen
ganz anders nachgeben als vor uns. Ja, nun konnten wir schlafen.
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