Seitdem habe ich viel über die Todesfurcht nachgedacht, nicht ohne
gewisse eigene Erfahrungen dabei zu berücksichtigen. Ich glaube,
ich kann wohl sagen, ich habe sie gefühlt. Sie überfiel mich
in der vollen Stadt, mitten unter den Leuten, oft ganz ohne Grund. Oft
allerdings häuften sich die Ursachen; wenn zum Beispiel jemand
auf einer Bank verging und alle standen herum und sahen ihm zu,
und er war schon über das Fürchten hinaus: dann hatte ich
seine Furcht. Oder in Neapel damals: da saß diese junge Person
mir gegenüber in der Elektrischen Bahn und starb. Erst sah es wie
eine Ohnmacht aus, wir fuhren sogar noch eine Weile. Aber dann war
kein Zweifel, daß wir stehenbleiben mußten. Und hinter
uns standen die Wagen und stauten sich, als ginge es in dieser
Richtung nie mehr weiter. Das blasse, dicke Mädchen hätte
so, angelehnt an ihre Nachbarin, ruhig sterben können. Aber ihre
Mutter gab das nicht zu. Sie bereitete ihr alle möglichen
Schwierigkeiten. Sie brachte ihre Kleider in Unordnung und goß
ihr etwas in den Mund, der nichts mehr behielt. Sie verrieb auf ihrer
Stirn eine Flüssigkeit, die jemand gebracht hatte, und wenn die
Augen dann ein wenig verrollten, so begann sie an ihr zu rütteln,
damit der Blick wieder nach vorne käme. Sie schrie in diese Augen
hinein, die nicht hörten, sie zerrte und zog das Ganze wie eine
Puppe hin und her, und schließlich holte sie aus und schlug mit
aller Kraft in das dicke Gesicht, damit es nicht stürbe. Damals
fürchtete ich mich.
Aber ich fürchtete mich auch schon früher. Zum Beispiel,
als mein Hund starb. Derselbe, der mich ein- für allemal
beschuldigte. Er war sehr krank. Ich kniete bei ihm schon den ganzen
Tag, da plötzlich bellte er auf, ruckweise und kurz, wie er zu
tun pflegte, wenn ein Fremder ins Zimmer trat. Ein solches Bellen war
für diesen Fall zwischen uns gleichsam verabredet worden, und
ich sah unwillkürlich nach der Tür. Aber es war schon in
ihm. Beunruhigt suchte ich seinen Blick, und auch er suchte den
meinen; aber nicht um Abschied zu nehmen. Er sah mich hart und
befremdet an. Er warf mir vor, daß ich es hereingelassen
hatte. Er war überzeugt, ich hätte es hindern
können. Nun zeigte es sich, daß er mich immer
überschätzt hatte. Und es war keine Zeit mehr, ihn
aufzuklären. Er sah mich befremdet und einsam an, bis es zu Ende
war.
Oder ich fürchtete mich, wenn im Herbst nach den ersten
Nachtfrösten die Fliegen in die Stuben kamen und sich noch einmal
in der Wärme erholten. Sie waren merkwürdig vertrocknet und
erschraken bei ihrem eigenen Summen; man konnte sehen, daß sie
nicht mehr recht wußten, was sie taten. Sie saßen
stundenlang da und ließen sich gehen, bis es ihnen einfiel,
daß sie noch lebten; dann warfen sie sich blindlings irgendwohin
und begriffen nicht, was sie dort sollten, und man hörte sie
weiterhin niederfallen und drüben und anderswo. Und endlich
krochen sie überall und bestarben langsam das ganze Zimmer.
Aber sogar wenn ich allein war, konnte ich mich fütchten. Warum
soll ich tun, als wären jene Nächte nicht gewesen, da ich
aufsaß vor Todesangst und mich daran klammerte, daß das
Sitzen wenigstens noch etwas Lebendiges sei: daß Tote nicht
saßen. Das war immer in einem von diesen zufälligen
Zimmern, die mich sofort im Stich ließen, wenn es mir schlecht
ging, als fürchteten sie, verhört und in meine argen Sachen
verwickelt zu werden. Da saß ich, und wahrscheinlich sah ich so
schrecklich aus, daß nichts den Mut hatte, sich zu mir zu
bekennen. Nicht einmal das Licht, dem ich doch eben den Dienst
erwiesen hatte, es anzuzünden, wollte von mir wissen. Es brannte
so vor sich hin, wie in einem leeren Zimmer. Meine letzte Hoffnung war
dann immer das Fenster. Ich bildete mir ein, dort draußen
könnte noch etwas sein, was zu mir gehörte, auch jetzt, auch
in dieser plötzlichen Armut des Sterbens. Aber kaum hatte ich
hingesehen, so wünschte ich, das Fenster wäre verrammelt
gewesen, zu, wie die Wand. Denn nun wußte ich, daß es dort
hinaus immer gleich teilnahmslos weiterging, daß auch
draußen nichts als meine Einsamkeit war. Die Einsamkeit, die
ich über mich gebracht hatte und zu deren Größe mein
Herz in keinem Verhältnis mehr stand. Menschen fielen mir ein,
von denen ich einmal fortgegangen war, und ich begriff nicht, wie man
Menschen verlassen konnte.
Mein Gott, mein Gott, wenn mir noch solche Nächte bevorstehen,
laß mir doch wenigstens einen von den Gedanken, die ich
zuweilen denken konnte. Es ist nicht so unvernünftig, was ich da
verlange; denn ich weiß, daß sie gerade aus der Furcht
gekommen sind, weil meine Furcht so groß war. Da ich ein Knabe
war, schlugen sie mich ins Gesicht und sagten mir, daß ich feige
sei. Das war, weil ich mich noch schlecht fürchtete. Aber seitdem
habe ich mich fürchten gelernt mit der wirklichen Furcht, die nur
zunimmt, wenn die Kraft zunimmt, die sie erzeugt. Wir haben keine
Vorstellung von dieser Kraft, außer in unserer Furcht. Denn so
ganz unbegreiflich ist sie, so völlig gegen uns, daß unser
Gehirn sich zersetzt an der Stelle, wo wir uns anstrengen, sie zu
denken. Und dennoch, seit einer Weile glaube ich, daß es
unsere Kraft ist, alle unsere Kraft, die noch zu stark ist
für uns. Es ist wahr, wir kennen sie nicht, aber ist es nicht
gerade unser Eigenstes, wovon wir am wenigsten wissen? Manchmal denke
ich mir, wie der Himmel entstanden ist und der Tod: dadurch, daß
wir unser Kostbarstes von uns fortgerückt haben, weil noch so
viel anderes zu tun war vorher und weil es bei uns Beschäftigten
nicht in Sicherheit war. Nun sind Zeiten darüber vergangen, und
wir haben uns an Geringeres gewöhnt. Wir erkennen unser Eigentum
nicht mehr und entsetzen uns vor seiner äußersten
Großheit. Kann das nicht sein?
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