Ich weiß, daß ich mir einbildete, nicht sofort wieder
abreisen zu können. Erst muß alles geordnet sein,
wiederholte ich mir. Was geordnet sein wollte, war mir nicht
klar. Es war so gut wie nichts zu tun. Ich ging in der Stadt umher
und konstatierte, daß sie sich verändert hatte. Es war mir
angenehm, aus dem Hotel hinauszutreten, in dem ich abgestiegen war,
und zu sehen, daß es nun eine Stadt für Erwachsene war, die
sich für einen zusammennahm, fast wie für einen Fremden. Ein
bißchen klein war alles geworden, und ich promenierte die
Langelinie hinaus bis an den Leuchtturm und wieder zurück. Wenn
ich in die Gegend der Amaliengade kam, so konnte es freilich
geschehen, daß von irgendwo etwas ausging, was man jahrelang
anerkannt hatte und was seine Macht noch einmal versuchte. Es gab da
gewisse Eckfenster oder Torbogen oder Laternen, die viel von einem
wußten und damit drohten. Ich sah ihnen ins Gesicht und
ließ sie fühlen, daß ich im Hotel >Phönix<
wohnte und jeden Augenblick wieder reisen konnte. Aber mein Gewissen
war nicht ruhig dabei. Der Verdacht stieg in mir auf, daß noch
keiner dieser Einflüsse und Zusammenhänge wirklich
bewältigt worden war. Man hatte sie eines Tages heimlich
verlassen, unfertig wie sie waren. Auch die Kindheit würde also
gewissermaßen noch zu leisten sein, wenn man sie nicht für
immer verloren geben wollte. Und während ich begriff, wie ich sie
verlor, empfand ich zugleich, daß ich nie etwas anderes haben
würde, mich darauf zu berufen.
Ein paar Stunden täglich brachte ich in Dronningens
Tværgade zu, in den engen Zimmern, die beleidigt aussahen wie
alle Mietswohnungen, in denen jemand gestorben ist. Ich ging zwischen
dem Schreibtisch und dem großen weißen Kachelofen hin und
her und verbrannte die Papiere des Jägermeisters. Ich hatte
begonnen, die Briefschaften, so wie sie zusammengebunden waren, ins
Feuer zu werfen, aber die kleinen Pakete waren zu fest verschnürt
und ver kohlten nur an den Rändern. Es kostete mich
Überwindung, sie zu lockern. Die meisten hatten einen starken,
überzeugenden Duft, der auf mich eindrang, als wollte er auch in
mir Erinnerungen aufregen. Ich hatte keine. Dann konnte es geschehen,
daß Photographien herausglitten, die schwerer waren als das
andere; diese Photographien verbrannten unglaublich langsam. Ich
weiß nicht, wie es kam, plötzlich bildete ich mir ein, es
könnte Ingeborgs Bild darunter sein. Aber sooft ich hinsah, waren
es reife, großartige, deutlich schöne Frauen, die mich auf
andere Gedanken brachten. Es erwies sich nämlich, daß ich
doch nicht ganz ohne Erinnerungen war. Genau solche Augen waren es, in
denen ich mich manchmal fand, wenn ich, zur Zeit da ich heranwuchs,
mit meinem Vater über die Straße ging. Dann konnten sie von
einem Wageninnern aus mich mit einem Blick umgeben, aus dem kaum
hinauszukommen war. Nun wußte ich, daß sie mich damals mit
ihm verglichen und daß der Vergleich nicht zu meinen Gunsten
ausfiel. Gewiß nicht, Vergleiche hatte der Jägermeister
nicht zu fürchten.
Es kann sein, daß ich nun etwas weiß, was er
gefürchtet hat. Ich will sagen, wie ich zu dieser Annahme
komme. Ganz innen in seiner Brieftasche befand sich ein Papier, seit
lange gefaltet, mürbe, gebrochen in den Bügen. Ich habe es
gelesen, bevor ich es verbrannte. Es war von seiner besten Hand,
sicher und gleichmäßig geschrieben, aber ich merkte gleich,
daß es nur eine Abschrift war.
»Drei Stunden vor seinem Tod«, so begann es und handelte
von Christian dem Vierten. Ich kann den Inhalt natürlich nicht
wörtlich wiederholen. Drei Stunden vor seinem Tod begehrte er
aufzustehen. Der Arzt und der Kammerdiener Wormius halfen ihm auf die
Füße. Er stand ein wenig unsicher, aber er stand, und sie
zogen ihm das gesteppte Nachtkleid an. Dann setzte er sich
plötzlich vorn an das Bettende und sagte etwas. Es war nicht zu
verstehen. Der Arzt behielt immerzu seine linke Hand, damit der
König nicht auf das Bett zurücksinke. So saßen sie,
und der König sagte von Zeit zu Zeit mühsam und trübe
das Unverständliche. Schließlich begann der Arzt ihm
zuzusprechen; er hoffte allmählich zu erraten, was der
König meinte. Nach einer Weile unterbrach ihn der König und
sagte auf einmal ganz klar: »0, Doktor, Doktor, wie heißt
er?« Der Arzt hatte Mühe, sich zu besinnen.
»Sperling, Allergnädigster König.«
Aber darauf kam es nun wirklich nicht an. Der König, sobald er
hörte, daß man ihn verstand, riß das rechte Auge, das
ihm geblieben war, weit auf und sagte mit dem ganzen Gesicht das eine
Wort, das seine Zunge seit Stunden formte, das einzige, das es noch
gab: »Döden«, sagte er,
»Döden.« (Der Tod, der Tod)
Mehr stand nicht auf dem Blatt. Ich las es mehrere Male, ehe ich es
verbrannte. Und es fiel mir ein, daß mein Vater viel gelitten
hatte zuletzt. So hatte man mir erzählt.
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