Dauer der Kindheit



(FÜR E.M.)
 

Lange Nachmittage der Kindheit....., immer noch nicht
Leben; immer noch Wachstum,
das in den Knien zieht -, wehrlose Wartezeit.
Und zwischen dem, was man sein wird, vielleicht,
und diesem randlosen Dasein -: Tode,
unzählige. Liebe umkreist, die besitzende,
das immer heimlich verratene Kind
und verspricht es der Zukunft; nicht seiner.

Nachmittage, da es allein blieb, von einem Spiegel zum andern
starrend; anfragend beim Rätsel des eigenen
Namens: Wer? Wer? - Aber die Andern
kehren nachhause und überwältigens.
Was ihm das Fenster, was ihm der Weg,
was ihm der dumpfe Geruch einer Lade
gestern vertraut hat: sie übertönens, vereitelns.
Wieder wird es ein Ihriges.
Ranken werfen sich so manchmal aus dichteren
Büschen heraus, wie sich sein Wunsch auswirft
aus dem Gewirr der Familie, schwankend im Klarheit.
Aber sie stumpfen ihm täglich den Blick an ihren gewohnteren
Wänden, jenen, den Aufblick, der den Hunden begegnet
und höhere Blumen
immer noch fast gegenüber hat.

Oh wie weit ist es von diesem
überwachten Geschöpf zu allem, was einmal
sein Wunder sein wird, oder sein Untergang.
Seine unmündige
Kraft lernt List zwischen den Fallen.

Und das Gestirn seiner künftigen Liebe
geht doch schon längst unter den Sternen,
gültig. Welches Erschrecken
wird ihm das Herz einmal reißen dorthin,
daß es abkommt vom Weg seiner Flucht
und gerät in Gehorsam und heiteren Einfluß?

Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (
Briefwechsel in Gedichten zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer, aus der vierten Antwort, Ragaz, 4. oder 5. Juli 1924)