(1898)
In unseren Stuben riecht es am Donnerstag nach Tomaten, am
Sonntag nach Gänsebraten, und jeden Montag ist Wäsche. So
sind die Tage: der rote, der fette, der seifige. Außerdem gibt es
noch die Tage hinter der Glastür; oder eigentlich einen einzigen
Tag aus Kühle, Seide und Sandelholz. Das Licht darin ist gesiebt,
fein, silbern, still; Ruß, Sturm, Lärm und Fliegen kommen
nicht mit herein wie in alle anderen Stuben. Und doch ist nur die
Glastür dazwischen; aber sie ist wie zwanzig eherne Tore, oder wie
eine Brücke, die nicht enden will, oder wie ein Fluß mit
einer unsicheren Fähre von Ufer zu Ufer.
Selten kommt jemand hinüber und erkennt nach und nach,
tief in der Dämmerung: über dem Sofa, groß, in Goldrahmen,
der Großvater, die Großmutter. Es sind enge, ovale
Brustbilder, aber beide haben ihre Hände hineingehoben, so
mühsam das gewesen sein mag. Es wären keine Porträts
geworden ohne diese Hände, hinter denen sie leise und
bescheiden hingelebt haben, alle Tage lang. Diese Hände hatten das
Leben gehabt und die Arbeit, die Sehnsucht und die Sorge, waren mutig
und jung gewesen und sind müde und alt geworden,
während sie selbst nur fromme, ehrfürchtige Zuschauer dieser
Geschicke waren. Ihre Mienen blieben müßig irgendwo weit vom
Leben und hatten nichts zu tun, als einander langsam ähnlich zu
werden. Und in den Goldrahmen über dem Sofa sehen sie wie
Geschwister aus. Aber dann stehen mit einem Male ihre Hände vor
den schwarzen Sonntagskleidern und verraten sie.
Die eine, hart, krampfig, rücksichtslos, sagt: So ist das
Leben. Die andere, blaß, bang, voll Zärtlichkeit, sagt:
Sieben Kinder - oh! Und einmal ist der blonde Enkel dabei, hört
die Hände und denkt: diese Hand ist wie der Vater, und meint die
harte, narbige damit. Und vor der bleichen Hand fühlt er: wie die
Mutter ist sie. Die Ähnlichkeit ist groß; und der Knabe
weiß, daß die Eltern sich nicht gern so sehen mögen;
deshalb kommen sie selten in den Salon. Sie passen in die Stuben, die
voll sind von lautem Licht, und in den Wechsel der Tage, die bald rot
von Tomaten, bald dumpf von Soda sind. Denn das ist das Leben. Und es
bleibt alles in ihren Zügen hängen wie einst an den
Händen der Großeltern. Ein paar Hände sind sie und
nichts dahinter.
Hinter der Glastür sind seltsame Gedanken. Die hohen,
halbblinden Spiegel wiederholen immerfort, als müßten sie's
auswendig lernen: der Großvater, die Großmutter. Und die
Albums auf der gehäkelten Tischdecke sind voll davon:
Großvater, Großmutter, Großvater, Großmutter.
Natürlich stehen die steilen Stühle ehrfurchtsvoll herum: als
ob sie einander eben erst vorgestellt wären und gerade die ersten
Phrasen tauschten: »Sehr angenehm«, oder: »Sie
gedenken, lange hier zu bleiben?«oder so etwas Höfliches.
Und dann verstummen sie ganz, sagen gleichsam: »Bitte«,
wenn die Spieluhr beginnt: »Tingilligin ... « Und sie singt
mit ihrer welken, winzigen Stimme ein Menuett. Das Lied bleibt eine
Welle über den Dingen und sickert dann in die vielen dunklen
Spiegel hinein und ruht in ihnen wie Silber in Seen.
In einer Ecke steht der Enkel und ist wie von van Dyck. Er
möchte so heißen, daß man seinen Namen zur Spieluhr
singen könnte, denn er hat plötzlich das Gefühl: Kampf
und Krankheit sind es nicht, auch nicht die Sorgen und das
tägliche Brot und der Wäschetag und alles andere, was mit uns
draußen in den engen Stuben wohnt. Das wirkliche Leben ist wie
dieses »Tingilligin« ... Es kann nehmen und schenken, kann
dich Bettler rufen oder König und tief oder traurig machen je
nachdem, aber es kann nicht das Gesicht bang oder zornig verzerren und
es kann auch - verzeih, Großpapa - es kann auch die Hände
nicht hart und häßlich machen wie deine.
Das war nur so ein breites, dunkles Gefühl in dem blonden
Knaben. Wie ein Hintergrund, vor dem andere kleine Kindergedanken
standen wie Bleisoldaten. Aber er empfand es doch, und vielleicht lebt
ers einmal.
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