Briefe


An Emil Freiherrn von Gebsattel

Schloß Duino bei Nebresina, österreichisches Küstenland,
am 24. Januar 1912


Lieber, guter Freund,
nehmen Sie dies noch nicht als mein allerletztes Wort -: nicht, als ob ich verhätte, mich noch einmal dem Entschluß gegenüber auszureden, nur im Bestreben vor Ihrer, für mich so großen und wichtigen Bereitschaft ganz genau zu sein. - Die Sache ist die: ich bin erst seit dem Dreikönigstag hier vollständig allein. Nun fühle ich, dieses noch nicht sehr lange Alleinsein leistet allerhand an mir, täglich ein klein wenig mehr. Und ich möchte mir nichts als die Möglichkeit wahren, Ihnen (wenn es so lange Zeit hat) das, was ich heute Ihnen zu schreiben versuche, nach ein paar Wochen, sagen wir Anfang Mörz, bestätigen zu dürfenn oder aber es zu widerrufen. Und ich sage da gleich, daß das erste mehr Aussichten hat.
Nämlich, ich bin über die ernstesten Erwägungen zu dem Ergebnis gekommen, daß ich mir den Ausweg der Analyse nicht erlauben darf, es sei denn, daß ich wirklich entschlossen wäre, jenseits von ihr, ein neues (möglicherweise unproduktives) Leben zu beginnen, ein Wechsel, den ich mir ja manchmal beim Abschluß des M.L.B. und öfters seither in müden Stimmungen, als Belohnung gewissermaßen alles Ausgestandenen, versprach. Nun muß ich mir aber zugeben, daß es mit solchen Plänen nie ganz ernst gewesen ist, daß ich ich vielmehr, hinter solchen Ausflüchten, doch unendlich stark an das einmal Begonnene, an alles Glück und alles Elend, das es mit sich bringt, gebunden fühle, so daß ich, strenggenommen, keinerlei Änderung wünschen kann, keinen Eingriff von außen, keine Erleichterung, es sei denn die im Überstehen und in der endlichen Leistung einheimische.

Vielleicht sind gewisse meiner neulich ausgesprochenen Bedenken sehr übertrieben; so viel, wie ich mich kenne, scheint mir sicher, daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleinen, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, - und - fühlen Sie - gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen.

Was ich durchmache, ist nicht schlimmer im Grunde, als was ich viele andere Male hingenommen habe, und dabei ist doch meine Geduld jetzt so viel reifer und verläßlicher als vor Jahren. Die Länge der Pause ließe sich zur Not mit dem tiefen Abschnitt erklären, der durch die riesige Aufarbeitung im Brigge gegeben war. Aber auch wenn dies erst ein kleiner Teil der Zwischenzeit wäre, könnte es nicht trotzdem sein, daß es für meine Natur nur ein ganz Rechtes gibt: auszuhalten? Ich glaube, ich werde da von einem Mal zum andern in der Lage Sindbads des Seefahrers sein, der in den Verhängnissen seiner Nöte alles Reisen abschwor und dann doch immer wieder eines Tages rüstete und aufbrach, er wußte nicht wie. So steht es also, mein lieber Freund. Ihr guter Brief hat viel dazu beigetragen, mir zu dieser Art Klarheit zu helfen, de ja nicht gerade strahlen ist, nicht wahr: aber man kann dabei lesen und schreiben und aushalten, und es wäre Neugier und Übermut, sofort mehr zu verlangen... Genug, lieber Freund.
Fühlen Sie durch alle die Einschränkungen, die mit Papier und Tinte zusammenhängen, die gute lebendige Dankbarkeit, bei der ich unter vielen Grüßen bin
Ihr
Rilke