Briefe


An August Sauer

Paris, 17, rue Campagne Première XIVe
am 11. Januar 1914


Verehrtester Herr und Freund,
es ist mir wirklich recht, daß wenigstens wieder eine Bitte bei mir vorkommt (dieser mein unermüdlicher, unbescheiden ausgenützter Anlaß zu Ihnen), so kann ich sie doch gleich zum Vorwand nehmen, Ihnen und Ihrer verehrten Frau im noch anfangenden Jahr Grüße und Wünsche darzubringen: möge es Ihnen ein reiches und erfreuliches werden, in der Arbeit sowohl als im Erleben, an dem es ja liegt, den Boden zu mischen, aus dem die Leistung und ihre Freudigkeit sich erheben möchte. Was meine diesmalige Bitte angeht, so muß ich ihr ein paar Anmerkungen voraus geben.

Seit meinem vorigen Winter ist mir Stifter zu einem ganz eigenen Gegenstand der Liebe und der Erbauung geworden: nie werd ichs vergessen, wie ich dort, im südlichen Spanien, von einem unerklärlichen Gefühl der Fremdheit gleichsam von allen Seiten angefallen, die ausgesprochenste Not empfand, mich zu etwas Vertraulichem zu retten; wie mir zu solchem Beistand kein Buch recht eigentlich auszureichen schien; wie ich mir schließlich, aus den Bänden, die der Insel-Verlag mir nach und nach zugesendet hatte, die schöne Sammlung "Deutsche Erzähler" in meine Abende vornahm und, mich damit einlassend, auch wirklich einen freundlichen Umgang voraus sah, der mir die nächsten Wochen mildern und innerlich aneignen dürfte; wie ich aber dann plötzlich eines solchen Abends, meinem kleinen Kaminfeuer gegenüber, von dem unvergleichlichen "Gegenbild" in den "Hagestolzen" hineingerissen wurde und nun auf einer solchen Neigung meines Wesens diesen Blättern zustürzte, daß ich gewissermaßen ganz in ihre Strömung mündete und aufging -. Worauf es wirklich Stifter wurde, der mich Abend für Abend den Einflüssen einer mich großartig überholenden Natur entzog, um mir in seiner verhältnismäßigen Welt reine Unterkunft und geschützte Erfreuung zu bieten. Ich hatte mir (wiederum vom Insel-Verlag) die "Studien" kommen lassen, sie beschäftigten mich lange. Und nun, genau ein Jahr später, schickt mir ein Bekannter aus London den "Nachsommer" (in der alten Ausgabe von 1857, Pest, bei Gustav Heckenast -, der ersten?), und obgleich dieses weitläufige, ganz der Länge nach entsponnene Werk nicht die Hinreißung gewisser Seiten in den "Studien" mit sich bringt, so hab ich doch auch ihm so viel Fassung zu verdanken, daß ich den deutlichsten Antrieb fühle, Stifters weitere Werke zu besitzen und die Bekanntschaft mit dem übrigen nicht den Zufällen zu  überlassen, die sich auf Jahresabstände einzurichten scheinen. Mir wäre nun vor allem um die Briefe (mit einer Lebensbeschreibung, drei Bände, Pest, 1869) zu tun und um die beiden Bände der "Bunten Steine" (1853 ebendort);  nur schrieb mir mein Londoner Freund, daß diese alten Ausgaben  mehr und mehr zu den Seltenheiten gehören. Nun schlage ich gestern zur Orientierung Meyers Konservationslexikon auf und finde, zu meiner Freude, dort vermerkt, daß die Gesellschaft zur Förderung Deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen mit der Herausgabe Stifters Sämmtlichen Werken beschäftigt sei. Und daraus entspringt nun die durch diese lange Vorgeschichte verhaltene Bitte: mir zu schreiben, verehrter Freund, ob diese Edition tatsächlich im Gange oder gar abgeschlossen sei. Ob eine Möglichkeit für mich bestünde, sie, etwa mittels Teilzahlungen, zu erwerben. - Zwar geb ich darüber den Wunsch, alte Exemplare aufzutreiben, nicht völlig auf; aber es dürfte sich ihm ja nur schwer und vielleicht sehr langsam nachkommen lassen. Dann, gestehe ich offen, verlockt mich zum Besitz jener neuen Ausgabe auch die Vermutung, daß ihre Anlage auf Ihrer Sorgfalt und Erfahrung beruhe, ja am Ende sogar (da Stifter, wie ich nicht zweifle, auch Ihnen ganz besonders zu Herzen reicht) durch Sie mit einer eindringlichen Einführung versehen worden ist.
Irr ich mich, oder ist er wirklich eine der wenigen künstlerischen Erscheinungen, die uns dafür entgelten und darüber trösten, daß es Österreich, dem eine eigentliche Durchdringung seiner Bestandteile in keinem Sinne beschieden war, zu einer ihm eigenen Sprache nicht hat bringen dürfen? Je älter ich werde, je schmerzlicher führe ich diesen negativ vorgezeichneten Posten mit, er steht gleichsam als Schuldübertrag auf jeder neuen Seite meiner Leistungen oben an. Innerhalb der Sprache, deren ich mich nun bediene, aufgewachsen, war ich gleichwohl in der Lage, sie zehnmal aufzugeben, da ich sie mir doch außerhalb aller Spracherinnerungen, ja mit Unterdrückung derselben aufzurichten hatte. Die unselige Berührung von Sprachkörpern, die sich gegenseitig unbekömmlich sind, hat ja in unseren Ländern dieses fortwährende Schlechtwerden der Sprachränder zur Folge, aus dem sich weiter herausstellt, daß, wer etwa in Prag aufgewachsen ist, von früh auf mit so verdorbenen Sprachabfällen unterhalten wurde, daß er später für alles Zeitigste und Zärtlichste, was ihm ist beigebracht worden, eine Abneigung, ja eine Art Scham zu entwickeln sich nicht verwehren kann. Stifter, in der reineren Verfassung des Böhmerwaldes, mag diese verhängnisvolle Nachbarschaft einer gegensätzlichen Sprachwelt, weniger wahrgenommen haben, und so kam er, naiv, dahin, sich aus Angestammtem und Erfahrenem ein Deutsch bereit zu machen, das ich, wenn irgend eines, als Österreichisch ansprechen möchte, so weit es nicht eben eine Eigenschaft und Eigenheit Stifters ist und nichts anderes als das. Erstaunlich ist aber die Stärke der Gültigkeit, mit der es sich durchsetzt, auch wo es nur im persönlichsten Bedürfnis seinen Ursprung hat, für das in der Beschränkung so weite Erlebnis dieses Geistes die lautere Gleichung aufzustellen. Wenn man, nach der einen Seite hin, den Dichter daran ermessen mag, wie weit sein Ausdruck auch noch den unzugänglichsten Verhältnissen seiner Seele entgegenkommt, so wird man Stifter zu den, in diesem Verstande, glücklichsten und somit auch größten Erscheinungen zu rechnen haben...
Mich am Rande der achten Seite antreffend, schließe ich eilig Bitten, Berichte und Fragen mit dem alten Schlußstück aus Dankbarkeit und Verehrung, das ich nie wiederhole, ohne es neu zu bilden und Zug für Zug nachzufühlen.
Ihr
Rilke