Château de Muzot sur Sierre Valais
am 18. Dezember 1922.

Hier ist, liebe Mama, der Gruß unserer gemeinsamen Sechs-Uhr-Stunde, der immer gleiche, von Jahr zu Jahr getreue. Möge er Dich in der tiefen freudigen Innerlichkeit finden, in der wir seit je diesen Augenblick begangen haben, der der zuversichtlichste des Jahrs zu sein verdient. Die Geburtsstunde des Heils! Ich fühle, Du versenkst Dich tief in das liebe, sooft erfahrene und geahnte Wunder und empfindest in der unendlichen Geborgenheit seiner Anschauung die reine Unberührtheit unseres Herzens, und wie's, wenn wir nur die Kraft haben, es ab und zu in das Licht zu halten, in die Mitte des Lichts -, wie's dann gefestigt und gefeit ist gegen alle Angriffe des Elends und der Verlassenheit.

   Es ist mir von Jahr zu Jahr ergreifender, wie Du, liebe Mama, es vermocht hast, mit so angegriffenem und leidendem Körper, eine solche Stärke und Beständigkeit des Herzens wider die eindringlichsten und schwierigsten Umstände zu bewähren, wieviele an Deiner Stelle wären verzweifelt, während Du doch eigentlich, wenn ichs bedenke, in Deinem unausgesetzten Kampfe immer stärker geworden bist, ja recht fühlbar froher und Dir, obwohl das Leben seine trübsten Seiten Dir zugekehrt hielt, doch, unbeirrt, eine Freudigkeit und Zustimmung aus den inneren Vorräten Deines Wesens zuströmte, die nicht zu erklären ist mit den Mitteln menschlichen Verstandes, und die ja auch unerklärt und wunderbar bleiben soll ein für alle Mal. Aber es ist heute der Abend vom Wunder zu reden, angesichts des Wunders der heiligen Krippe, aus dem Dir, da Du nicht aufhörtest es unter allen Umständen zu vereh¬ren und anzubeten, diese Fülle geflossen ist! - So laß uns, liebe Mama, auch heute, wie seit Jahrzehnten, wie in meiner kleinsten Kindheit, staunend und freudig vor diesem heiligen Geheimnis vereinigt sein: wie sehr der gute Papa das Geschenkzimmer vorzubereiten wußte, so daß das Kinderherz hoch aufschlug beim Aufspringen der Flügeltür und meinte, wie von einer Welle der Erfüllung überwältigt zu sein. Aber wie viel gewaltiger noch, je mehr dieses eine kindliche Herz wächst und zunimmt, wie ungeheuer überlegen auch noch in ihm, dem erwachsensten Herzen, bleibt diese verschwenderische jede seiner Erwartungen überfüllende Welle, wenn sie nun nichtmehr aus dem heimlich ausgestatteten, plötzlich eröffneten Zimmer, nicht mehr vom übervollen Gabentisch, sondern von der kleinsten unscheinbarsten Stelle herüberschlägt, an der wir das Weihnachtslicht anzünden. Die Erscheinung des lieblichen Wunders durfte kleiner, geringer werden, weil wir dahingekommen sind, über dem mindesten Zeichen seiner Gegenwart, den ganzen Glanz in uns, in unserem festlichen, geordneten Gemüt wahrzunehmen. Die Bescherung hat draußen nur ein Tischchen für sich, aber die lange Tafel der Erfüllungen steht nun in unserem Herzen, umgeben von einem Glanz, der auch noch die Erinnerung an den schönsten Christbaum der Kindheit übertrifft.

   Wenn in Mitten dieses unseres stillen Beschenktseins, wo alles erfüllt und befriedigt scheint, ein meiniger Wunsch sich geltend machen dürfte, so wäre es dieser, liebe Mama, daß die Umstände es endlich erlauben, daß Du die nächsten Weihnachten in jenem kleinen eigenen Heim feiern möchtest, das Du Dir so lange wünschst und das sich, wie ich zuversichtlich hoffe, der Hausverkauf gelingt, nun doch an irgend einer Stelle wird verwirklichen lassen! In dieser Zuversicht, liebe Mama, sei unter den Weihnachtslichtern herzlich umarmt von Deinem alten - in der gleichen Stunde feierlich Dein gedenkenden -

René