Mädchen in meiner Heimat. Daß die schönste von euch im
Sommer an einem Nachmittag in der verdunkelten Bibliothek sich das
kleine Buch fände, das Jan des Tournes 1556 gedruckt
hat. Daß sie den kühlenden, glatten Band mitnähme
hinaus in den summenden Obstgarten oder hinüber zum Phlox, in
dessen übersüßtem Duft ein Bodensatz schierer
Süßigkeit steht. Daß sie es früh fände. In
den Tagen, da ihre Augen anfangen, auf sich zu halten, während
der jüngere Mund noch imstande ist, viel zu große
Stücke von einem Apfel abzubeißen und voll zu sein.
Und wenn dann die Zeit der bewegteren Freundschaften kommt,
Mädchen, daß es euer Geheimnis wäre, einander Dika zu
rufen und Anaktoria, Gyrinno und Atthis. Daß einer, ein Nachbar
vielleicht, ein älterer Mann, der in seiner Jugend gereist ist
und längst als Sonderling gilt, euch diese Namen
verriete. Daß er euch manchmal zu sich einlüde, um seiner
berühmten Pfirsiche willen oder wegen der Ridingerstiche zur
Equitation oben im weißen Gang, von denen so viel gesprochen
wird, daß man sie müßte gesehen haben.
Vielleicht überredet ihr ihn zu erzählen. Vielleicht ist die
unter euch, die ihn erbitten kann, die alten Reisetagebücher
hervorzuholen, wer kann es wissen? Dieselbe, die es ihm eines Tags zu
entlocken versteht, daß einzelne Gedichtstellen der Sappho auf
uns gekommen sind, und die nicht ruht bis sie weiß, was fast ein
Geheimnis ist: daß dieser zurückgezogene Mann es liebte,
zuzeiten seine Muße an die Übertragung dieser
Versstücke zu wenden. Er muß zugeben, daß er lange
nicht mehr daran gedacht hat, und was da ist, versichert er, sei nicht
der Rede wert. Aber nun freut es ihn doch, vor diesen arglosen
Freundinnen, wenn sie sehr drängen, eine Strophe zu sagen. Er
entdeckt sogar den griechischen Wortlaut in seinem Gedächtnis,
er spricht ihn vor,
weil die Übersetzung nichts giebt, seiner Meinung nach, und um
dieser Jugend den schönen, echten Bruch der massiven
Schmucksprache zu zeigen, die in so starken Flammen gebogen ward.
Über dem allen erwärmt er sich wieder für seine
Arbeit. Es kommen schöne, fast jugendliche Abende für ihn,
Herbstabende zum Beispiel, die sehr viel stille Nacht vor sich
haben. In seinem Kabinett ist dann lange Licht. Er bleibt nicht immer
über die Blätter gebeugt, er lehnt sich oft zurück, er
schließt die Augen über einer wiedergelesenen Zeile, und
ihr Sinn verteilt sich in seinem Blut. Nie war er der Antike so
gewiß. Fast möchte er der Generationen lächeln, die
sie beweint haben wie ein verlorenes Schauspiel, in dem sie gerne
aufgetreten wären. Nun begreift er momentan die dynamische
Bedeutung jener frühen Welteinheit, die etwas wie ein neues,
gleichzeitiges Aufnehmen aller menschlichen Arbeit war. Es beirrt ihn
nicht, daß jene konsequente Kultur mit ihren gewissermaßen
vollzähligen Versichtbarungen für viele spätere Blicke
ein Ganzes zu bilden schien und ein im Ganzen Vergangenes. Zwar ward
dort wirklich des Lebens himmlische Hälfte an die halbrunde
Schale des Daseins gepaßt, wie zwei volle Hemisphären zu
einer heilen, goldenen Kugel zusammengehen. Doch dies war kaum
geschehen, so empfanden die in ihr eingeschlossenen Geister diese
restlose Verwirklichung nur noch als Gleichnis; das massive Gestirn
verlor an Gewicht und stieg auf in den Raum, und in seiner goldenen
Rundung spiegelte sich zurückhaltend die Traurigkeit dessen, was
noch nicht zu bewältigen war.
Wie er dies denkt, der Einsame in seiner Nacht, denkt und einsieht,
bemerkt er einen Teller mit Früchten auf der
Fensterbank. Unwillkürlich greift er einen Apfel heraus und legt
ihn vor sich auf den Tisch. Wie steht mein Leben herum um diese
Frucht, denkt er. Um alles Fertige steigt das Ungetane und steigert
sich.
Und da, über dem Ungetanen, ersteht ihm, fast zu schnell, die
kleine, ins Unendliche hinaus gespannte Gestalt, die (nach Galiens
Zeugnis) alle meinten, wenn sie sagten: die Dichterin. Denn wie hinter
den Werken des Herakles Abbruch und Umbau der Welt verlangend
aufstand, so drängten sich, gelebt zu werden, aus den
Vorräten des Seins an die Taten ihres Herzens die Seligkeiten und
Verzweiflungen heran, mit denen die Zeiten auskommen müssen.
Er kennt auf einmal dieses entschlossene Herz, das bereit war, die
ganze Liebe zu leisten bis ans Ende. Es wundert ihn nicht, daß
man es verkannte; daß man in dieser überaus künftigen
Liebenden nur das Übermaß sah, nicht die neue
Maßeinheit von Liebe und Herzleid. Daß man die Inschrift
ihres Daseins auslegte wie sie damals gerade glaubhaft war, daß
man ihr endlich den Tod derjenigen zuschrieb, die der Gott einzeln
anreizt, aus sich hinauszulieben ohne Erwiderung. Vielleicht waren
selbst unter den von ihr gebildeten Freundinnen solche, die es nicht
begriffen: daß sie auf der Höhe ihres Handelns nicht um
einen klagte, der ihre Umarmung offen ließ, sondern um den
nicht mehr Möglichen, der ihrer Liebe gewachsen war.
Hier steht der Sinnende auf und tritt an sein Fenster, sein hohes
Zimmer ist ihm zu nah, er möchte Sterne sehen, wenn es
möglich ist. Er täuscht sich nicht über sich selbst. Er
weiß, daß diese Bewegung ihn erfüllt, weil unter den
jungen Mädchen aus der Nachbarschaft die eine ist, die ihn
angeht. Er hat Wünsche (nicht für sich, nein, aber für
sie); für sie versteht er in einer nächtlichen Stunde, die
vorübergeht, den Anspruch der Liebe. Er verspricht sich, ihr
nichts davon zu sagen. Es scheint ihm das Äußerste, allein
zu sein und wach und um ihretwillen zu denken, wie sehr im Recht jene
Liebende war: wenn sie wußte, daß mit der Vereinigung
nichts gemeint sein kann, als ein Zuwachs an Einsamkeit; wenn sie den
zeitlichen Zweck des Geschlechtes
durchbrach mit seiner unendlichen Absicht. Wenn sie im Dunkel der
Umarmungen nicht nach Stillung grub, sondern nach Sehnsucht. Wenn sie
es verachtete, daß von Zweien einer der Liebende sei und einer
Geliebter, und die schwachen Geliebten, die sie sich zum Lager trug,
an sich zu Liebenden glühte, die sie verließen. An solchen
hohen Abschieden wurde ihr Herz zur Natur. Über dem Schicksal
sang sie den firnen Lieblinginnen ihr Brautlied; erhöhte ihnen
die Hochzeit; übertrieb ihnen den nahen Gemahl, damit sie sich
zusammennähmen für ihn wie für einen Gott und auch noch
seine Herrlichkeit überstünden.
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