Ich weiß, wenn ich zum Äußersten bestimmt bin,
so wird es mir nichts helfen, daß ich mich verstelle in meinen
besseren Kleidern. Glitt er nicht mitten im Königtum unter die
Letzten? Er, der statt aufzusteigen hinabsank bis auf den Grund. Es
ist wahr, ich habe zuzeiten an die anderen Könige geglaubt,
obwohl die Parke nichts mehr beweisen. Aber es ist Nacht, es ist
Winter, ich friere, ich glaube an ihn. Denn die Herrlichkeit ist nur
ein Augenblick, und wir haben nie etwas Längeres gesehen als das
Elend. Der König aber soll dauern.
Ist nicht dieser der Einzige, der sich erhielt unter seinem Wahnsinn
wie Wachsblumen unter einem Glassturz? Für die anderen beteten
sie in den Kirchen um langes Leben, von ihm aber verlangte der Kanzler
Jean Charlier Gerson, daß er ewig sei, und das war damals, als
er schon der Dürftigste war, schlecht und von schierer Armut
trotz seiner Krone.
Das war damals, als von Zeit zu Zeit Männer fremdlings,
mit geschwärztem Gesicht, ihn in seinem Bette überfielen, um
ihm das in die Schwären hineingefaulte Hemde abzureißen,
das er schon längst für sich selber hielt. Es war verdunkelt
im Zimmer, und sie zerrten unter seinen steifen Armen die
mürben Fetzen weg, wie sie sie griffen. Dann leuchtete einer vor,
und da erst entdeckten sie die jäsige Wunde auf seiner Brust, in
die das eiserne Amulett eingesunken war, weil er es jede Nacht an sich
preßte mit aller Kraft seiner Inbrunst; nun stand es tief in
ihm, fürchterlich kostbar, in einem Perlensaum von Eiter wie ein
wundertuender Rest in der Mulde eines Reliquärs. Man hatte harte
Handlanger ausgesucht, aber sie waren nicht ekelfest, wenn die
Würmer, gestört, nach ihnen herüberstanden aus dem
flandrischen Barchent und, aus den Falten abgefallen, sich irgendwo
an ihren Ärmeln aufzogen. Es war ohne Zweifel schlimmer geworden
mit ihm seit den Tagen der parva regina; denn sie hatte doch noch bei
ihm liegen mögen, jung und klar wie sie war. Dann war sie
gestorben. Und nun hatte keiner mehr gewagt, eine Beischläferin
an dieses Aas anzubetten. Sie hatte die Worte und Zärtlichkeiten
nicht hinterlassen, mit denen der König zu mildern war. So drang
niemand mehr durch dieses Geistes Verwilderung; niemand half ihm aus
den Schluchten seiner Seele; niemand begriff es, wenn er selbst
plötzlich heraustrat mit dem runden Blick eines Tiers, das auf
die Weide geht. Wenn er dann das beschäftigte Gesicht Juvenals
erkannte, so fiel ihm das Reich ein, wie es zuletzt gewesen war. Und
er wollte nachholen, was er versäumt hatte.
Aber es lag an den Ereignissen jener Zeitläufte, daß sie
nicht schonend beizubringen waren. Wo etwas geschah, da geschah es mit
seiner ganzen Schwere, und war wie aus einem Stück, wenn man es
sagte. Oder was war davon abzuziehen, daß sein Bruder ermordet
war, daß gestern Valentina Visconti, die er immer seine liebe
Schwester nannte, vor ihm gekniet hatte, lauter Witwenschwarz weg
hebend von des entstellten Antlitzes
Klage und Anklage? Und heute stand stundenlang ein zäher, rediger
Anwalt da und bewies das Recht des fürstlichen Mordgebers,
solange bis das Verbrechen durchscheinend wurde und als wollte es
licht in den Himmel fahren. Und gerecht sein hieß, allen recht
geben; denn Valentina von Orléans starb Kummers, obwohl man ihr
Rache versprach. Und was half es, dem burgundischen Herzog zu
verzeihen und wieder zu verzeihen; über den war die finstere
Brunst der Verzweiflung gekommen, so daß er schon seit Wochen
tief im Walde von Argilly wohnte in einem Zelt und behauptete, nachts
die Hirsche schreien hören zu müssen zu seiner
Erleichterung.
Wenn man dann das alles bedacht hatte, immer wieder bis ans Ende, kurz
wie es war, so begehrte das Volk einen zu sehen, und es sah einen:
ratlos. Aber das Volk freute sich des Anblicks; es begriff, daß
dies der König sei: dieser Stille, dieser Geduldige, der nur da
war, um es zuzulassen, daß Gott über ihn weg handelte in
seiner späten Ungeduld. In diesen aufgeklärten Augenblicken
auf dem Balkon seines Hôtels von Saint-Pol ahnte der König
vielleicht seinen heimlichen Fortschritt; der Tag von Roosbecke fiel
ihm ein, als sein Oheim von Berry ihn an der Hand genommen hatte, um
ihn hinzuführen vor seinen ersten fertigen Sieg; da
überschaute er in dem merkwürdig langhellen Novembertag die
Massen der Genter, so wie sie sich erwürgt hatten mit ihrer
eigenen Enge, da man gegen sie angeritten war von allen
Seiten. Ineinandergewunden wie ein unge heueres Gehirn, lagen sie da
in den Haufen, zu denen sie sich selber zusammengebunden hatten, um
dicht zu sein. Die Luft ging einem weg, wenn man da und dort ihre
erstickten Gesichter sah; man konnte es nicht lassen, sich
vorzustellen, daß sie weit über diesen vor Gedränge
noch stehenden Leichen verdrängt worden sei durch den
plötzlichen Austritt so vieler verzweifelter Seelen.
Dies hatte man ihm eingeprägt als den Anfang seines
Ruhms. Und er hatte es behalten. Aber, wenn das damals der Triumph des
Todes war, so war dieses, daß er hier stand auf seinen schwachen
Knieen, aufrecht in allen diesen Augen: das Mysterium der Liebe. An
den anderen hatte er gesehen, daß man jenes Schlachtfeld
begreifen konnte, so ungeheuer es war. Dies hier wollte nicht
begriffen sein; es war genau so wunderbar wie einst der Hirsch mit dem
goldenen Halsband im Wald von Senlis. Nur daß er jetzt selber
die Erscheinung war, und andere waren versunken in Anschauen. Und er
zweifelte nicht, daß sie atemlos waren und von derselben weiten
Erwartung, wie sie einmal ihn an jenem jünglinglichen Jagdtag
überfiel, als das stille Gesicht, äugend, aus den Zweigen
trat. Das Geheimnis seiner Sichtbarkeit verbreitete sich über
seine sanfte Gestalt; er rührte sich nicht, aus Scheu, zu
vergehen, das dünne Lächeln auf seinem breiten, einfachen
Gesicht nahm eine natürliche Dauer an wie bei steinernen Heiligen
und bemühte ihn nicht. So hielt er sich hin, und es war einer
jener Augenblicke, die die Ewigkeit sind, in Verkürzung
gesehen. Die Menge ertrug es kaum. Gestärkt, von unerschöpflich
vermehrter Tröstung gespeist, durchbrach sie die Stille mit dem
Aufschrei der Freude. Aber oben auf dem Balkon war nur noch Juvenal
des Ursins, und er rief in die nächste Beruhigung hinein,
daß der König rue Saint-Denis kommen würde zu der
Passionsbrüderschaft, die Mysterien sehen.
Zu solchen Tagen war der König voll milden
Bewußtseins. Hätte ein Maler jener Zeit einen Anhalt
gesucht für
das Dasein im Paradiese, er hätte kein vollkommeneres Vorbild
finden können als des Königs gestillte Figur, wie sie in
einem der hohen Fenster des Louvre stand unter dem Sturz ihrer
Schultern. Er blätterte in dem kleinen Buch der Christine de
Pisan, das »Der Weg des langen Lernens« heißt und
das ihm gewidmet war. Er las nicht die gelehrten Streitreden jenes
allegorischen Parlaments, das sich vorgesetzt hatte, den Fürsten ausfindig zu machen, der würdig
sei, über die Welt zu herrschen. Das Buch schlug sich ihm immer
an den einfachsten Stellen auf: wo von dem Herzen die Rede war, das
dreizehn Jahre lang wie ein Kolben über dem Schmerzfeuer nur dazu
gedient hatte, das Wasser der Bitternis für die Augen zu
destillieren; er begriff, daß die wahre Konsolation erst begann,
wenn das Glück vergangen genug und für immer vorüber
war. Nichts war ihm näher, als dieser Trost. Und während
sein Blick scheinbar die Brücke drüben umfaßte, liebte
er es, durch dieses von der starken Cumäa zu großen Wegen
ergriffene Herz die Welt zu sehen, die damalige: die gewagten Meere,
fremdtürmige Städte, zugehalten vom Ausdruck der Weiten;
der gesammelten Gebirge ekstatische Einsamkeit und die in
fürchtigem Zweifel erforschten Himmel, die sich erst schlossen
wie eines Saugkindes Hirnschale.
Aber wenn jemand eintrat, so erschrak er, und langsam beschlug sich
sein Geist. Er gab zu, daß man ihn vom Fenster fortführte
und ihn beschäftigte. Sie hatten ihm die Gewohnheit beigebracht,
stundenlang über Abbildungen zu verweilen, und er war es
zufrieden, nur kränkte es ihn, daß man im Blättern
niemals mehrere Bilder vor sich behielt und daß sie in den
Folianten festsaßen, so daß man sie nicht untereinander
bewegen konnte. Da hatte sich jemand eines Spiels Karten erinnert, das
völlig in Vergessenheit geraten war, und der König nahm den
in Gunst, der es ihm brachte; so sehr waren diese Kartons nach seinem
Herzen, die bunt waren und einzeln beweglich und voller Figur. Und
während das Kartenspielen unter den Hofleuten in Mode kam,
saß der König in seiner Bibliothek und spielte
allein. Genau wie er nun zwei Könige nebeneinander aufschlug,
so hatte Gott neulich ihn und den Kaiser Wenzel zusammengetan;
manchmal starb eine Königin, dann legte er ein Herz-Aß auf
sie, das war wie ein Grabstein. Es wunderte ihn nicht, daß es in
diesem Spiel mehrere Päpste
gab; er richtete Rom ein drüben am Rande des Tisches, und hier,
unter seiner Rechten, war Avignon. Rom war ihm gleichgültig, er
stellte es sich aus irgendeinem Grunde rund vor und bestand nicht
weiter darauf. Aber Avignon kannte er. Und kaum dachte er es, so
wiederholte seine Erinnerung den hohen hermetischen Palast und
überanstrengte sich. Er schloß die Augen und mußte
tief Atem holen. Er fürchtete bös zu träumen
nächste Nacht.
Im ganzen aber war es wirklich eine beruhigende Beschäftigung,
und sie hatten recht, ihn immer wieder darauf zu bringen. Solche
Stunden befestigten ihn in der Ansicht, daß er der König
sei, König Karl der Sechste. Das will nicht sagen, daß er
sich übertrieb; weit von ihm war die Meinung, mehr zu sein als
so ein Blatt, aber die Gewißheit bestärkte sich in ihm,
daß auch er eine bestimmte Karte sei, vielleicht eine schlechte,
eine zornig ausgespielte, die immer verlor: aber immer die gleiche:
aber nie eine andere. Und doch, wenn eine Woche so hingegangen war in
gleichmäßiger Selbstbestätigung, so wurde ihm enge in
ihm. Die Haut spannte ihn um die Stirn und im Nacken, als
empfände er auf einmal seinen zu deutlichen Kontur. Niemand
wußte, welcher Versuchung er nachgab, wenn er dann nach den
Mysterien fragte und nicht erwarten konnte, daß sie
begännen. Und war es einmal so weit, so wohnte er mehr rue
Saint-Denis als in seinem Hötel von Saint-Pol.
Es war das Verhängnisvolle dieser dargestellten Gedichte,
daß sie sich immerfort ergänzten und erweiterten und zu
Zehntausenden von Versen anwuchsen, so daß die Zeit in ihnen
schließlich die wirkliche war; etwa so, als machte man einen
Globus im Maßstab der Erde. Die hohle Estrade, unter der die
Hölle war und über der, an einen Pfeiler angebaut, das
geländerlose Gerüst eines Balkons das Niveau des Paradieses
bedeutete, trug nur noch dazu bei, die Täuschung zu
verringern. Denn dieses Jahr hundert hatte in der Tat Himmel und
Hölle irdisch gemacht: es lebte aus den Kräften beider, um
sich zu überstehen.
Es waren die Tage jener avignonesischen Christenheit, die sich vor
einem Menschenalter um Johann den Zweiundzwanzigsten zusammengezogen
hatte, mit so viel unwillkürlicher Zuflucht, daß an dem
Platze seines Pontifikats, gleich nach ihm, die Masse dieses Palastes
entstanden war, verschlossen und schwer wie ein äußerster
Notleib für die wohnlose Seele aller. Er selbst aber, der kleine,
leichte, geistige Greis, wohnte noch im Offenen. Während er, kaum
angekommen, ohne Aufschub, nach allen Seiten hin rasch und knapp zu
handeln begann, standen die Schüsseln mit Gift gewürzt auf
seiner Tafel; der erste Becher mußte immer weggeschüttet
werden, denn das Stück Einhorn war mißfarbig, wenn es der
Mundkämmerer daraus zurückzog. Ratlos, nicht wissend, wo er
sie verbergen sollte, trug der Siebzigjährige die Wachsbildnisse
herum, die man von ihm gemacht hatte, um ihn darin zu verderben; und
er ritzte sich an den langen Nadeln, mit denen sie durchstochen
waren. Man konnte sie einschmelzen. Doch so hatte er sich schon an
diesen heimlichen Simulakern entsetzt, daß er, gegen seinen
starken Willen, mehrmals den Gedanken formte, er könnte sich
selbst damit tödlich sein und hinschwinden wie das Wachs am
Feuer. Sein verminderter Körper wurde nur noch trockener vom
Grausen und dauerhafter. Aber nun wagte man sich an den Körper
seines Reichs; von Granada aus waren die Juden angestiftet worden,
alle Christlichen zu vertilgen, und diesmal hatten sie sich
furchtbarere Vollzieher erkauft. Niemand zweifelte, gleich auf die
ersten Gerüchte hin, an dem Anschlag der Leprosen; schon hatten
einzelne gesehen, wie sie Bündel ihrer schrecklichen Zersetzung
in die Brunnen warfen. Es war nicht Leichtgläubigkeit, daß
man dies sofort für möglich hielt; der Glaube, im Gegenteil,
war so schwer geworden, daß er den Zitternden entsank und bis
auf den Grund der Brunnen fiel. Und
wieder hatte der eifrige Greis Gift abzuhalten vom Blute. Zur Zeit
seiner abergläubischen Anwandlungen hatte er sich und seiner
Umgebung das Angelus verschrieben gegen die Dämonen der
Dämmerung; und nun läutete man auf der ganzen erregten Welt
jeden Abend dieses kalmierende Gebet. Sonst aber glichen alle Bullen
und Briefe, die von ihm ausgingen, mehr einem Gewürzwein als
einer Tisane. Das Kaisertum hatte sich nicht in seine Behandlung
gestellt, aber er ermüdete nicht, es mit Beweisen seines
Krankseins
zu überhäufen; und schon wandte man sich aus dem fernsten
Osten an diesen herrischen Arzt.
Aber da geschah das Unglaubliche. Am Allerheiligentag hatte er
gepredigt, länger, wärmer als sonst; in einem
plötzlichen Bedürfnis, wie um ihn selbst wiederzusehen,
hatte er seinen Glauben gezeigt; aus dem fünfundachtzigjährigen
Tabernakel hatte er ihn mit aller Kraft langsam herausgehoben und auf
der Kanzel ausgestellt: und da schrieen sie ihn an. Ganz Europa
schrie: dieser Glaube war schlecht.
Damals verschwand der Papst. Tagelang ging keine Aktion von ihm aus,
er lag in seinem Betzimmer auf den Knieen und erforschte das Geheimnis
der Handelnden, die Schaden nehmen an ihrer Seele. Endlich erschien
er, erschöpft von der schweren Einkehr, und widerrief. Er
widerrief einmal über das andere. Es wurde die senile
Leidenschaft seines Geistes, zu widerrufen. Es konnte geschehen,
daß er
nachts die Kardinäle wecken ließ, um mit ihnen von seiner
Reue zu reden. Und vielleicht war das, was sein Leben über die
Maßen hinhielt, schließlich nur die Hoffnung, sich auch
noch vor Napoleon Orsini zu demütigen, der ihn haßte und
der nicht kommen wollte.
Jakob von Cahors hatte widerrufen. Und man könnte meinen, Gott
selber hätte seine Irrung erweisen wollen, da er so bald hernach
jenen Sohn des Grafen von Ligny aufkommen ließ, der seine
Mündigkeit auf Erden nur abzuwarten schien, um des Himmels
seelische Sinnlichkeiten
mannbar anzutreten. Es lebten viele, die sich dieses klaren Knaben in
seinem Kardinalat erinnerten, und wie er am Eingang seiner
Jünglingschaft Bischof geworden und mit kaum achtzehn Jahren in
einer Ekstase seiner Vollendung gestorben war. Man begegnete
Totgewesenen: denn die Luft an seinem Grabe, in der, frei geworden,
pures Leben lag, wirkte lange noch auf die Leichname. Aber war nicht
etwas Verzweifeltes selbst in dieser frühreifen Heiligkeit? War
es nicht ein Unrecht an allen, daß das reine Gewebe dieser Seele
nur eben durchgezogen worden war, als han delte es sich nur darum, es
in der garen Scharlachküpe der Zeit leuchtend zu färben?
Empfand man nicht etwas wie einen Gegenstoß, da dieser junge
Prinz von der Erde absprang in seine leidenschaftliche Himmelfahrt?
Warum verweilten die Leuchtenden nicht unter den mühsamen Lichtziehern? War es nicht diese Finsternis, die Johann den
Zweiundzwanzigsten dahin gebracht hatte, zu behaupten, daß es
vor dem jüngsten Gericht keine ganze Seligkeit gäbe,
nirgends, auch unter den Seligen nicht? Und in der Tat, wieviel
rechthaberische Verbissenheit gehörte dazu, sich vorzustellen,
daß, während hier so dichte Wirrsal geschah, irgendwo
Gesichter schon im Scheine Gottes lagen, an Engel zurückgelehnt
und gestillt durch die unausschöpfliche Aussicht auf ihn.
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