Noch vor meines Vaters Tod war alles anders geworden. Ulsgaard war
nicht mehr in unserm Besitz. Mein Vater starb in der Stadt, in einer
Etagenwohnung, die mir feindsälig und befremdlich schien. Ich war
damals schon im Ausland und kam zu spät.
Er war aufgebahrt in einem Hofzimmer zwischen zwei Reihen hoher
Kerzen. Der Geruch der Blumen war unverständlich wie viele
gleichzeitige Stimmen. Sein schönes Gesicht, darin die Augen
geschlossen worden waren, hatte einen Ausdruck höflichen
Erinnerns. Er war eingekleidet in die Jägermeisters-Uniform,
aber aus irgendeinem Grunde hatte man das weiße Band aufgelegt,
statt des blauen. Die Hände waren nicht gefaltet, sie lagen
schräg übereinander und sahen nachgemacht und sinnlos
aus. Man hatte mir rasch erzählt, daß er viel gelitten
habe: es war nichts davon zu sehen. Seine Züge waren
aufgeräumt wie die Möbel in einem Fremdenzimmer, aus dem
jemand abgereist war. Mir war zumute, als hätte ich ihn schon
öfter tot gesehen: so gut kannte ich das alles.
Neu war nur die Umgebung, auf eine unangenehme Art. Neu war dieses
bedrückende Zimmer, das Fenster gegenüber hatte,
wahrscheinlich die Fenster anderer Leute. Neu war es, daß
Sieversen von Zeit zu Zeit hereinkam und nichts tat. Sieversen war alt
geworden. Dann sollte ich frühstücken. Mehrmals wurde mir
das Frühstück gemeldet. Mir lag durchaus nichts daran, zu
frühstücken an diesem Tage. Ich merkte nicht, daß man
mich forthaben wollte; schließlich, da ich nicht ging, brachte
Sieversen es irgendwie heraus, daß die Ärzte da
wären. Ich begriff nicht, wozu. Es wäre da noch etwas zu
tun, sagte Sieversen und sah mich mit ihren roten Augen angestrengt
an. Dann traten, etwas überstürzt, zwei Herren herein: das
waren die Ärzte. Der vordere senkte seinen Kopf mit einem Ruck,
als hätte er Hörner und wollte stoßen, um uns
über seine Gläser fort anzusehen: erst Sieversen, dann
mich.
Er verbeugte sich mit studentischer Förmlichkeit. »Der Herr
Jägermeister hatte noch einen Wunsch«, sagte er genau so,
wie er eingetreten war; man hatte wieder das Gefühl, daß er
sich überstürzte. Ich nötigte ihn irgendwie, seinen
Blick durch seine Gläser zu richten. Sein Kollege
war ein voller, dünnschaliger, blonder Mensch; es fiel mir ein,
daß man ihn leicht zum Erröten bringen
könnte. Darüber entstand eine Pause. Es war seltsam,
daß der Jägermeister jetzt noch Wünsche hatte.
Ich blickte unwillkürlich wieder hin in das schöne,
gleichmäßige Gesicht. Und da wußte ich, daß er
Sicherheit wollte. Die hatte er im Grunde immer gewünscht. Nun
sollte er sie bekommen.
»Sie sind wegen des Herzstichs da: bitte.«
Ich verneigte mich und trat zurück. Die beiden Ärzte
verbeugten sich gleichzeitig und begannen sofort sich über ihre
Arbeit zu verständigen. Jemand rückte auch schon die Kerzen
beiseite. Aber der Ältere machte nochmals ein paar Schritte auf
mich zu. Aus einer gewissen Nähe streckte er sich vor, um das
letzte Stück Weg zu ersparen, und sah mich böse an.
»Es ist nicht nötig«, sagte er, »das
heißt, ich meine, es ist vielleicht besser, wenn Sie
. . . «
Er kam mir vernachlässigt und abgenutzt vor in seiner sparsamen
und eiligen Haltung. Ich verneigte mich abermals; es machte sich so,
daß ich mich schon wieder verneigte.
»Danke«, sagte ich knapp. »Ich werde nicht
stören.«
Ich wußte, daß ich dieses ertragen würde und
daß kein Grund da war, sich dieser Sache zu entziehen. Das hatte
so kommen müssen. Das war vielleicht der Sinn von dem
Ganzen. Auch hatte ich nie gesehen, wie es ist, wenn jemand durch die
Brust gestochen wird. Es schien mir in der Ordnung, eine so
merkwürdige Erfahrung nicht abzulehnen, wo sie sich zwanglos und
unbedingt einstellte. An Enttäuschungen glaubte ich damals
eigentlich schon nicht mehr; also war nichts zu befürchten.
Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das
Geringste. Es ist alles aus so viel einzigen Einzelheiten
zusammengesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im
Einbilden geht man über sie weg und merkt nicht, daß sie
fehlen, schnell wie man ist. Die Wirklichkeiten aber sind langsam und
unbeschreiblich ausführlich.
Wer hätte zum Beispiel an diesen Widerstand gedacht. Kaum war die
breite, hohe Brust bloßgelegt, so hatte der eilige kleine Mann
schon die Stelle heraus, um die es sich handelte. Aber das rasch
angesetzte Instrument drang nicht ein. Ich hatte das Gefühl, als
wäre plötzlich alle Zeit fort aus dem Zimmer. Wir befanden
uns wie in einem Bilde. Aber dann stürzte die Zeit nach mit einem
kleinen, gleitenden Geräusch, und es war mehr da, als verbraucht
wurde. Auf einmal klopfte es irgendwo. Ich hatte noch nie so klopfen
hören: ein warmes, verschlossenes, doppeltes Klopfen. Mein
Gehör gab es weiter, und ich sah zugleich, daß der Arzt auf
Grund gestoßen war. Aber es dauerte eine Weile, bevor die beiden
Eindrücke in mir zusammenkamen. So, so, dachte ich, nun ist es
also durch. Das Klopfen war, was das Tempo betrifft, beinah
schadenfroh.
Ich sah mir den Mann an, den ich nun schon so lange kannte. Nein, er
war völlig beherrscht: ein rasch und sachlich arbeitender Herr,
der gleich weiter mußte. Es war keine Spur von Genuß oder
Genugtuung dabei. Nur an seiner linken Schläfe hatten sich ein
paar Haare aufgestellt aus irgendeinem alten Instinkt. Er zog das
Instrument vorsichtig zurück, und es war etwas wie ein Mund da,
aus dem zweimal hintereinander Blut austrat, als sagte er etwas
Zweisilbiges. Der junge, blonde Arzt nahm es schnell mit einer
eleganten Bewegung in seine Watte auf. Und nun blieb die Wunde ruhig,
wie ein geschlossenes Auge.
Es ist anzunehmen, daß ich mich noch einmal verneigte, ohne
diesmal recht bei der Sache zu sein. Wenigstens war ich erstaunt, mich
allein zu finden. Jemand hatte die Uniform wieder in Ordnung
gebracht, und das weiße Band lag darüber wie vorher. Aber
nun war der Jägermeister tot, und nicht er allein. Nun war das
Herz durchbohrt, unser
Herz, das Herz unseres Geschlechts. Nun war es vorbei. Das war also
das Helmzerbrechen: »Heute Brigge und nimmermehr«, sagte
etwas in mir.
An mein Herz dachte ich nicht. Und als es mir später einfiel,
wußte ich zum erstenmal ganz gewiß, daß es
hierfür nicht in Betracht kam. Es war ein einzelnes Herz. Es war
schon dabei, von Anfang anzufangen.
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