Wenn Besuch da war und Erik wurde gerufen, so versicherte das
Fräulein Mathilde Brahe jedesmal, es sei geradezu unglaublich,
wie sehr er der alten Gräfin Brahe gliche, meiner
Großmutter. Sie soll eine sehr große Dame gewesen
sein. Ich habe sie nicht gekannt. Dagegen erinnere ich mich sehr gut
an die Mutter meines Vaters, die eigentliche Herrin auf Ulsgaard. Das
war sie wohl immer geblieben, wie sehr sie es auch Maman
übelnahm, daß sie als des Jägermeisters Frau ins Haus
gekommen war. Seither tat sie beständig, als zöge sie sich
zurück, und schickte die Dienstleute mit jeder Kleinigkeit weiter
zu Maman hinein, während sie in wichtigen Angelegenheiten ruhig
entschied und verfügte, ohne irgend jemandem Rechenschaft
abzulegen. Maman, glaube ich, wünschte es gar nicht anders. Sie
war so
wenig gemacht, ein großes Haus zu übersehen, ihr fehlte
völlig die Einteilung der Dinge in nebensächliche und
wichtige. Alles, wovon man ihr sprach, schien ihr immer das Ganze zu
sein, und sie vergaß darüber das andere, das doch auch noch
da war. Sie beklagte sich nie über ihre Schwiegermutter. Und bei
wem hätte sie sich auch beklagen sollen? Vater war ein
äußerst respektvoller Sohn, und Großvater hatte wenig
zu sagen.
Frau Margarete Brigge war immer schon, soweit ich denken kann, eine
hochgewachsene, unzugängliche Greisin. Ich kann mir nicht anders
vorstellen, als daß sie viel älter gewesen sei, als der
Kammerherr. Sie lebte mitten unter uns ihr Leben, ohne auf jemanden
Rücksicht zu nehmen. Sie war auf keinen von uns angewiesen und
hatte immer eine Art Gesellschafterin, eine alternde Komtesse Oxe, um
sich, die sie sich durch ihrgendeine Wohltat unbegrenzt verpflichtet
hatte. Dies mußte eine einzelne Ausnahme gewesen sein, denn
wohltun war sonst nicht ihre Art. Sie liebte keine Kinder, und Tiere durften nicht in ihre
Nähe. Ich weiß nicht, ob sie sonst etwas liebte. Es wurde
erzählt, daß sie als ganz junges Mädchen dem
schönen Felix Lichnowski verlobt gewesen sei, der dann in
Frankfurt so grausam ums Leben kam. Und in der Tat war nach ihrem Tode
ein Bildnis des Fürsten da, das, wenn ich nicht irre, an die
Familie zurückgegeben worden ist. Vielleicht, denke ich mir
jetzt, versäumte sie über diesem eingezogenen
ländlichen Leben, das das Leben auf Ulsgaard von Jahr zu Jahr
mehr geworden war, ein anderes, glänzendes: ihr natürliches. Es
ist schwer zu sagen, ob sie es betrauerte. Vielleicht verachtete sie
es dafür, daß es nicht gekommen war, daß es die
Gelegenheit verfehlt hatte, mit Geschick und Talent gelebt worden zu
sein. Sie hatte alles dies so weit in sich hineingenommen und hatte
darüber Schalen angesetzt, viele, spröde, ein wenig
metallisch glänzende Schalen, deren jeweilig oberste sich neu
und kühl ausnahm. Bisweilen freilich verriet sie sich doch durch
eine naive Ungeduld, nicht genügend beachtet zu sein; zu meiner
Zeit konnte sie sich dann bei Tische plötzlich verschlucken auf
irgendeine deutliche und komplizierte Art, die ihr die Teilnahme aller
sicherte und sie, für einen Augenblick wenigstens, so
sensationell und spannend erscheinen ließ, wie sie es im
Großen hätte sein mögen. Indessen vermute ich,
daß mein Vater der einzige war, der diese viel zu häufigen
Zufälle ernst nahm. Er sah ihr, höflich vorübergeneigt,
zu, man konnte merken, wie er ihr in Gedanken seine eigene,
ordentliche Luftröhre gleichsam anbot und ganz zur Verfügung
stellte. Der Kammerherr hatte natürlich gleichfalls zu essen
aufgehört; er nahm einen kleinen Schluck Wein und enthielt sich
jeder Meinung.
Er hatte bei Tische ein einziges Mal die seinige seiner Gemahlin
gegenüber aufrechterhalten. Das war lange her; aber die
Geschichte wurde doch noch boshaft und heimlich weitergegeben; es gab
fast überall jemanden, der sie noch
nicht gehört hatte. Es hieß, daß die Kammerherrin zu
einer gewissen Zeit sich sehr über Weinfiecke ereifern konnte,
die durch Ungeschicklichkeit ins Tischzeug gerieten; daß ein
solcher Fleck, bei welchem Anlaß er auch passieren mochte, von
ihr bemerkt und unter dem heftigsten Tadel sozusagen
bloßgestellt wurde. Dazu wäre es auch einmal gekommen, als
man mehrere und namhafte Gäste hatte. Ein paar unschuldige
Flecke, die sie übertrieb, wurden der Gegenstand ihrer
höhnischen Anschuldigungen, und wie sehr der Großvater sich
auch bemühte, sie durch kleine Zeichen und scherzhafte Zurufe zu
ermahnen, so wäre sie doch eigensinnig bei ihren Vorwürfen
geblieben, die sie dann allerdings mitten im Satze stehen lassen
mußte. Es geschah nämlich etwas nie Dagewesenes und
völlig Unbegreifliches. Der Kammerherr hatte sich den Rotwein
geben lassen, der gerade herumgereicht worden war, und war nun in
aller Aufmerksamkeit dabei, sein Glas selber zu füllen. Nur
daß er, wunderbarerweise, einzugießen nicht aufhörte,
als es längst voll war, sondern unter zunehmender Stille langsam
und vorsichtig weitergoß, bis Maman, die nie an sich halten
konnte, auflachte und damit die ganze Angelegenheit nach dem Lachen
hin in Ordnung brachte. Denn nun stimmten alle erleichtert ein, und
der Kammerherr sah auf und reichte dem Diener die Flasche.
Später gewann eine andere Eigenheit die Oberhand bei meiner
Großmutter. Sie konnte es nicht ertragen, daß jemand im
Hause erkrankte. Einmal, als die Köchin sich verletzt hatte und
sie sah sie zufällig mit der eingebundenen Hand, behauptete sie,
das Jodoform im ganzen Hause zu riechen, und war schwer zu
überzeugen, daß man die Person daraufhin nicht entlassen
könne. Sie wollte nicht an das Kranksein erinnert werden. Hatte
jemand die Unvorsichtigkeit, vor ihr irgendein kleines Unbehagen zu
äußern, so war das nichts anderes als eine persönliche
Kränkung für sie, und sie trug sie ihm lange nach.
In jenem Herbst, als Maman starb, schloß sich die Kammerherrin
mit Sophie Oxe ganz in ihren Zimmern ein und brach allen Verkehr mit
uns ab. Nicht einmal ihr Sohn wurde angenommen. Es ist ja wahr, dieses
Sterben fiel recht unpassend. Die Zimmer waren kalt, die Öfen
rauchten, und die Mäuse waren ins Haus gedrungen; man war
nirgends sicher vor ihnen. Aber das allein war es nicht, Frau
Margarete Brigge war empört, daß Maman starb; daß da
eine Sache auf der Tagesordnung stand, von der zu sprechen sie
ablehnte; daß die junge Frau sich den Vortritt anmaßte vor
ihr, die einmal zu sterben gedachte zu einem durchaus noch nicht
festgesetzten Termin. Denn daran, daß sie würde sterben
müssen, dachte sie oft. Aber sie wollte nicht gedrängt
sein. Sie würde sterben, gewiß, wann es ihr gefiel, und
dann konnten sie ja alle ruhig sterben, hinterher, wenn sie es so
eilig hatten.
Mamans Tod verzieh sie uns niemals ganz. Sie alterte übrigens
rasch während des folgenden Winters. Im Gehen war sie immer noch
hoch, aber im Sessel sank sie zusammen, und ihr Gehör wurde
schwieriger. Man konnte sitzen und sie groß ansehen,
stundenlang, sie fühlte es nicht. Sie war irgendwo drinnen; sie
kam nur noch selten und nur für Augenblicke in ihre Sinne, die
leer waren, die sie nicht mehr bewohnte. Dann sagte sie etwas zu der
Komtesse, die ihr die Mantille richtete, und nahm mit den
großen, frisch gewaschenen Händen ihr Kleid an sich, als
wäre Wasser vergossen oder als wären wir nicht ganz
reinlich.
Sie starb gegen den Frühling zu, in der Stadt, eines
Nachts. Sophie Oxe, deren Tür offenstand, hatte nichts
gehört. Da man sie am Morgen fand, war sie kalt wie Glas.
Gleich darauf begann des Kammerherrn große und schreckliche
Krankheit. Es war, als hätte er ihr Ende abgewartet, um so
rücksichtslos sterben zu können, wie er mußte.
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