Wenn sie aber von Ingeborg erzählte, dann konnte ihr
nichts geschehen; dann schonte sie sich nicht; dann sprach sie lauter,
dann lachte sie in der Erinnerung an Ingeborgs Lachen, dann sollte man
sehen, wie schön Ingeborg gewesen war. »Sie machte uns
alle froh«, sagte sie, »deinen Vater auch, Malte,
buchstäblich froh. Aber dann, als es hieß, daß sie
sterben würde, obwohl sie doch nur ein wenig krank schien, und
wir gingen alle herum und verbargen es, da setzte sie sich einmal im
Bette auf und sagte so vor sich hin, wie einer, der hören will,
wie etwas klingt: >Ihr müßt euch nicht so
zusammennehmen; wir wissen es alle, und ich kann euch beruhigen, es
ist gut so wie es kommt, ich mag nicht mehr.< Stell dir vor, sie
sagte: >Ich mag nicht mehr<; sie, die uns alle froh machte. Ob
du das einmal verstehen wirst, wenn du groß bist, Malte? Denk
daran später, vielleicht fällt es dir ein. Es wäre ganz
gut, wenn es jemanden gäbe, der solche Sachen
versteht.«
>Solche Sachen< beschäftigten Maman, wenn sie allein war,
und sie war immer allein diese letzten Jahre.
»Ich werde ja nie darauf kommen, Malte«, sagte sie
manchmal mit ihrem eigentümlich kühnen Lächeln, das von
niemandem gesehen sein wollte und seinen Zweck
ganz erfüllte, indem es gelächelt ward. »Aber
daß es keinen reizt, das herauszufinden; wenn ich ein Mann
wäre, ja gerade wenn ich ein Mann wäre, würde ich
darüber nachdenken, richtig der Reihe und Ordnung nach und von
Anfang an. Denn einen Anfang muß es doch geben, und wenn man ihn
zu fassen bekäme, das wäre immer schon etwas. Ach Malte, wir
gehen so hin, und mir kommt vor, daß alle zerstreut sind und
beschäftigt und nicht recht achtgeben, wenn wir hingehen. Als ob
eine Sternschnuppe fiele und es sieht sie keiner und keiner hat sich
etwas gewünscht. Vergiß nie, dir etwas zu wünschen,
Malte. Wünschen, das soll man nicht aufgeben. Ich glaube, es
giebt keine Erfüllung, aber es giebt Wünsche, die lange
vorhalten, das ganze Leben lang, so daß man die Erfüllung
doch gar nicht abwarten könnte.«
Maman hatte Ingeborgs kleinen Sekretär hinauf in ihr Zimmer
stellen lassen, davor fand ich sie oft, denn ich durfte ohne weiteres
bei ihr eintreten. Mein Schritt verging völlig in dem Teppich,
aber sie fühlte mich und hielt mir eine ihrer Hände
über die andere Schulter hin. Diese Hand war ganz ohne Gewicht,
und sie küßte sich fast wie das elfenbeinerne Kruzifix, das
man mir abends vor dem Einschlafen reichte. An diesem niederen
Schreibschrank, der mit einer Platte sich vor ihr aufschlug, saß
sie wie an einem Instrument. »Es ist so viel Sonne drin«,
sagte sie, und wirklich, das Innere war merkwürdig hell, von
altem, gelbem Lack, auf dem Blumen gemalt waren, immer eine rote und
eine blaue. Und wo drei nebeneinanderstanden, gab es eine violette
zwischen ihnen, die die beiden anderen trennte. Diese Farben und das
Grün des schmalen, waagerechten Rankenwerks waren ebenso
verdunkelt in sich, wie der Grund strahlend war, ohne eigentlich klar
zu sein. Das ergab ein seltsam gedämpftes Verhältnis von
Tönen, die in innerlichen gegenseitigen Beziehungen standen, ohne
sich über sie auszusprechen.
Maman zog die kleinen Laden heraus, die alle leer waren.
»Ach, Rosen«, sagte sie und hielt sich ein wenig vor in
den trüben Geruch hinein, der nicht alle wurde. Sie hatte dabei
immer die Vorstellung, es könnte sich plötzlich noch etwas
finden in einem geheimen Fach, an das niemand gedacht hatte und das
nur dem Druck irgendeiner versteckten Feder nachgab. »Auf
einmal springt es vor, du sollst sehen«, sagte sie ernst und
ängstlich und zog eilig an allen Laden. Was aber wirklich an
Papieren in den Fächern zurückgeblieben war, das hatte sie
sorgfältig zusammengelegt und eingeschlossen, ohne es zu
lesen. »Ich verstünde es doch nicht, Malte, es wäre
sicher zu schwer für mich.« Sie hatte die Überzeugung,
daß alles zu kompliziert für sie sei. »Es giebt keine
Klassen im Leben für Anfänger, es ist immer gleich das
Schwierigste, was von einem verlangt wird.« Man versicherte mir,
daß sie erst seit dem schrecklichen Tode ihrer Schwester so
geworden sei, der Gräfin Öllegaard Skeel, die verbrannte, da
sie sich vor einem Balle am Leuchterspiegel die Blumen im Haar anders
anstecken wollte. Aber in letzter Zeit schien ihr doch Ingeborg das,
was am schwersten zu begreifen war.
Es war mitten im Sommer, am Donnerstag nach Ingeborgs Beisetzung. Von
dem Platze auf der Terrasse, wo der Tee genommen wurde, konnte man den
Giebel des Erbbegräbnisses sehen zwischen den riesigen Ulmen
hin. Es war so gedeckt worden, als ob nie eine Person mehr an diesem
Tisch gesessen hätte, und wir saßen auch alle recht
ausgebreitet herum. Und jeder hatte etwas mitgebracht, ein Buch oder einen
Arbeitskorb, so daß wir sogar ein wenig beengt waren. Abelone
(Mamans jüngste Schwester) verteilte den Tee, und alle waren
beschäftigt, etwas herumzureichen, nur dein Großvater sah
von seinem Sessel aus nach dem Hause hin. Es war die Stunde, da man
die Post erwartete, und es
fügte sich meistens so, daß Ingeborg sie brachte, die mit
den Anordnungen für das Essen länger drin
zurückgehalten war. In den Wochen ihrer Krankheit hatten wir nun
reichlich Zeit
gehabt, uns ihres Kommens zu entwöhnen; denn wir wußten ja,
daß sie nicht kommen könne. Aber an diesem Nachmittag,
Malte, da sie wirklich nicht mehr kommen konnte -: da kam
sie. Vielleicht war es unsere Schuld; vielleicht haben wir sie
gerufen. Denn ich erinnere mich, daß ich auf einmal dasaß
und angestrengt war, mich zu besinnen, was denn eigentlich nun anders
sei. Es war mir plötzlich nicht möglich zu sagen, was;
ich hatte es völlig vergessen. Ich blickte auf und sah alle
andern dem Hause zugewendet, nicht etwa auf eine besondere,
auffällige Weise, sondern so recht ruhig und alltäglich in
ihrer Erwartung. Und da war ich daran - (mir wird ganz kalt, Malte,
wenn ich es denke) aber, Gott behüt mich, ich war daran zu sagen:
»Wo bleibt nur -« Da schoß schon Cavalier, wie er
immer tat, unter dem Tisch hervor und lief ihr entgegen. Ich hab es
gesehen, Malte, ich hab es gesehen. Er lief ihr entgegen, obwohl sie
nicht kam; für ihn kam sie. Wir begriffen, daß er ihr
entgegenlief. Zweimal sah er sich nach uns um, als ob er fragte. Dann
raste er auf sie zu, wie immer, Malte, genau wie immer, und erreichte
sie; denn er begann rund herum zu springen, Malte, um etwas, was nicht
da war, und dann hinauf an ihr, um sie zu lecken, gerade hinauf. Wir
hörten ihn winseln vor Freude, und wie er so in die Höhe
schnellte, mehrmals rasch hintereinander, hätte man wirklich
meinen können, er verdecke sie uns mit seinen Sprüngen. Aber
da heulte es auf einmal, und er drehte sich von seinem eigenen
Schwunge in der Luft um und stürzte zurück, merkwürdig
ungeschickt, und lag ganz eigentümlich flach da und rührte
sich nicht. Von der andern Seite trat der Diener aus dem Hause mit den
Briefen. Er zögerte eine Weile; offenbar war es nicht ganz
leicht, auf unsere Gesichter zuzugehen. Und dein Vater winkte ihm
auch schon, zu bleiben. Dein Vater, Malte, liebte keine Tiere;
aber nun ging er doch hin, langsam wie mir schien, und bückte
sich über den Hund. Er sagte etwas zu dem Diener, irgend etwas
Kurzes, Einsilbiges. Ich sah, wie der Diener hinzusprang, um Cavalier
aufzuheben. Aber da nahm dein Vater selbst das Tier und ging damit,
als wüßte er genau wohin, ins Haus hinein.
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