Hier zunächst das Sonett:
- Wo, in welchen immer selig bewässerten Gärten, an welchen
Bäumen, aus welchen zärtlich entblätterten Blüten-Kelchen
reifen die fremdartigen Früchte der Tröstung? Diese
köstlichen, deren du eine vielleicht in der zertretenen Wiese
deiner Armut findest. Von einem zum anderen Male
wunderst du dich über die Größe der Frucht,
über ihr Heilsein, über die Sanftheit der Schale,
und daß sie der Leichtsinn des Vogels dir nicht vorwegnahm und nicht die Eifersucht
unten des Wurms. Giebt es denn Bäume, von Engeln beflogen,
und von verborgenen langsamen Gärtnern so seltsam gezogen,
daß sie uns tragen, ohne uns zu gehören?
___ Haben wir niemals vermocht, wir Schatten und Schemen,
durch unser voreilig reifes und wieder welkes Benehmen
jener gelassenen Sommer Gleichmut zu stören?
Lieber Dasha, ja, natürlich hast Du recht: wenn Rilke etwas wie "whatever" gemeint hätte, dann wäre es klarer gewesen mit "auch": etwa
"in welchen selig bewässerten Gärten auch immer".
Nun ist es zwar grammatikalisch möglich, in gewissen Fällen auf das "auch" zu verzichten - aber für mich fühlt es sich wirklich wie eine gewaltige und grobe Verbiegung der Sprache Rilkes an, in der ersten Zeile dieses Sonettes an ein "whatever" zu denken.
Und ich stimme ganz vehement
helle zu: daß das Wort "immer" sich auf "welchen" beziehen sollte, ist eine bloße Behauptung, die - zumindest auf der Seite, die Du hereingestellt hast - durch nichts belegt wird.
Anders als
helle finde ich allerdings diese Behauptung nicht plausibel, sondern meiner Ansicht nach ist es eine ziemlich absurde und ganz abwegige Behauptung.
Das englische "whatever" ebenso wie das deutsche "welche auch immer" bedeutet ja etwas
Unbestimmtes.
Die "Bäume", nach denen Rilke hier fragt, sind aber doch etwas ganz
Bestimmtes.
Ernst Leisi geht offenbar davon aus, wenn man es anders versteht als er, müßte sich "immer" auf "bewässerten" beziehen.
Für
mich aber liest es sich noch etwas anders - ich beziehe "immer" hier ganz eindeutig auf "selig":
Was sind das für Gärten, fragt Rilke, deren Früchten nichts schädlich sein kann, denen immer und ausschließlich "Seliges" zukommt?
Giebt es denn Bäume, von Engeln beflogen, - von
Engeln also, und nicht von gierigen Vögeln, die sich etwas aus den Früchten herauspicken, noch ehe sie reif sind. Es gibt in diesen Gärten offenbar auch keine gefräßigen Würmer, die die Schale der Früchte durchbohren und sich durch ihr Fleisch fressen. Und sogar die Blütenkelche werden nicht gewaltsam, sondern
zärtlich entblättert.
Nun sind ja die Früchte, von denen Rilke hier spricht,
metaphorische Früchte - das hat natürlich auch Ernst Leisi richtig erkannt.
Man könnte daher annehmen, daß es allein
deshalb keine Fruchtschädlinge in Gestalt von Vogel oder Wurm geben kann, weil es sich eben gar nicht um
wirkliche Früchte handelt.
Im letzten Terzett aber macht Rilke deutlich, daß auch an
metaphorischen "Früchten" möglicherweise "Schädlinge" nagen könnten: wir selbst wären es,
unser voreilig reifes und wieder welkes Benehmen.
Wenn man allerdings einmal die
Früchte der Tröstung kennengelernt hat, dann kennt man nicht nur ihre
Größe und die
Sanftheit der Schale, sondern man weiß auch um ihr
Heilsein.
Es
gibt also ganz offenbar "Gärten", in denen die "gelassene Gleichmut der Sommer" durch nichts gestört werden kann.
Und im Enjambement vom ersten zum zweiten Quartett deutet Rilke auch an, was das für Gärten sein könnten - indem er ein mögliches Beispiel nennt: die
zertretene Wiese deiner Armut.
Und ich kehre nun zurück an den Anfang des Sonettes und deute die "Bewässerung" dieser "Gärten" als
Tränen.
Tränen, die wir aus Leid weinen, scheinen uns
bitter zu sein --- und dennoch sind gerade sie es, die die "Gärten", in denen uns die "Früchte der Tröstung" wachsen und reifen, auf das
Seligste bewässern...
Ich denke an die Zehnte Elegie, an die
weite Landschaft der Klagen, an ihre
Tränenbäume und Felder blühender Wehmut ...
Ich kenne nur diese eine Seite des Buches von Ernst Leisi über Rilkes "Sonette an Orpheus".
Aber schon da stellt er noch eine zweite Behauptung auf, eine ganz grundsätzliche sogar, der ich keineswegs zustimmen kann:
"Wie wir wissen, beurteilt Rilke die condition humaine negativ:"
Nein, sage ich.
Wie man wissen kann, wenn man Rilkes Gedichte gelesen hat, zum Beispiel die Neunte Elegie, geht es ihm ganz im Gegenteil darum, die Welt zu
preisen. Und zwar nicht (wie Ernst Leisi zu denken scheint) die "unsägliche", sondern das
Einfache, das, von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet,/als ein Unsriges lebt, neben der Hand und im Blick.
Und gerade der
Mensch, in und wegen seiner "condition humaine" - das kann man bei Rilke immer wieder lesen! - gerade der Mensch ist das Wesen, das zu solchem Preisen und Rühmen in der Lage ist.
Lieber Dasha, ich habe mich sehr gefreut, wieder einmal von Dir zu hören!
Herzlichen Gruß,
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)