Nun auch noch von mir einige Gedanken dazu - und zuerst nochmal das Gedicht:
- Römische Sarkophage
Was aber hindert uns zu glauben, daß
(so wie wir hingestellt sind und verteilt)
nicht eine kleine Zeit nur Drang und Haß
und dies Verwirrende in uns verweilt,
wie einst in dem verzierten Sarkophag,
bei Ringen, Götterbildern, Gläsern, Bändern,
in langsam sich verzehrenden Gewändern
ein langsam Aufgelöstes lag -
bis es die unbekannten Munde schluckten,
die niemals reden. (Wo besteht und denkt
ein Hirn, um ihrer einst sich zu bedienen?)
Da wurde von den alten Aquädukten
ewiges Wasser in sie eingelenkt-:
das spiegelt jetzt und geht und glänzt in ihnen.
(Paris 1906)
"Sarkophag" - das ist ein griechisches Wort, das ursprünglich soviel wie "Fleischfresser" bedeutet. Unser Wort "Sarg" leitet sich wohl davon her.
Der
Wikipedia entnehme ich, daß diese Steinsärge mit Alaunschiefer ausgelegt wurden, was bewirkte, daß die Leiber der Verstorbenen (mit Ausnahme der Zähne) darin binnen nur 40 Tagen vollkommen verwesten.
Rilke vergleicht in diesem Sonett uns Menschen mit den Sarkophagen: so wie in diesen etwas "eine kleine Zeit nur" verweilt, weil es dann verwest ist, verschwunden, aufgelöst, "geschluckt" von den "unbekannten Munden, die niemals reden" --- ebenso könnte es sein (und was sollte uns hindern, es zu glauben?), daß "Drang und Haß und dies Verwirrende" (also wohl all unsere Triebe und Abneigungen, mitsamt allen Ängsten und Unsicherheiten, die wir in uns fühlen) nur eine kleine Zeit in
uns verweilen, bis sie sich schließlich auflösen...
"Wir" sind hier also nicht identisch mit "Drang und Haß" und diesem "Verwirrenden". Sondern "wir" sind das "Bleibende", wir sind diejenigen, in denen sich all dieses
auflöst.
Zudem sind wir "hingestellt und verteilt". Von wem? Rilke stellt diese Frage nicht.
Aber später, als er von den Sarkophagen als "unbekannten Munden" spricht, stellt er eine andere Frage, die mich beschäftigt: "(Wo besteht und denkt/ein Hirn, um ihrer einst sich zu bedienen?)"
Diese Frage scheint mir eine rhetorische zu sein: ein solches Hirn, das sich dereinst der Sarkophage "bedient", vielleicht um sie dann doch noch zum Reden zu veranlassen, existiert wohl nicht.
Aber wenn ich an dieser Stelle von den Sarkophagen wieder zu dem "Wir" zurückkehre, das mit ihnen verglichen wird, dann steigt in mir die Frage auf, ob es nicht etwas gibt, das "besteht und denkt", und das
uns "hingestellt und verteilt" hat, um sich dereinst vielleicht
unser zu "bedienen"...
Die Sache mit den Aquädukten im zweiten Terzett kann ich mir im Moment auch nicht erklären - ob der Stein alter, nicht mehr als solcher benötigter Sarkophage zum Bau von Aquädukten verwendet wurde? Oder ob auf sonst eine Weise Wasser (das ja mit seinem Kreislauf etwas "Ewiges" an sich hat) "in sie eingelenkt" wurde?
Die letzte Zeile: "das spiegelt jetzt und geht und glänzt in ihnen." erinnert mich an ein anderes Gedicht:
- Empfange nun von manchem Zweig ein Winken,
als sei`s ein Grüßen oder Wiedersehn;
und, wie die Schalen, draus die Vögel trinken,
laß selbst den Regen spiegelnd in dir stehn.
Nichts geht verloren, alles giebt sich weiter.
Wer es im Innersten begreift der steigt,
und oben ist das Ende seiner Leiter
ans Gleichgesinnte sicher angeneigt.
(Ragaz, Mitte Juli 1924)
Ob die außergewöhnliche Frage nach dem "Hirn", das sich dereinst der "unbekannten Munde" bedienen könnte, im 18 Jahre älteren Gedicht bereits andeuten soll, daß "nichts verloren geht", daß "alles sich weitergiebt"?
fragt sich
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)